Zeitschrift für Theologie, geistliches Leben und christliche Kultur
Die alte Kirche neu denken
Ecclesia semper reformanda
von Klaus Mass
Johann Michael Sailer mahnte seine Zeitgenossen bereits vorsichtig, mit dem doch nötigen Begriff der kirchlichen Erneuerung umzugehen. Werden Hoffnungen erweckt, die anschließend nicht erfüllt werden können, so werde schlicht eine „schlechte Comödie“ gespielt und das „betrogene Publikum gehe unzufrieden nach Hause“.
Es ist fast so, als Blicke Sailer auf unsere Tage: wie viele unrealistische Hoffnungen und auch Ängste und vorprogrammierte Enttäuschungen müssen aktuelle Formate wie die „Amazonassynode“ in Südamerika oder der „synodale Weg“ in Deutschland erwecken?
Die anstehende Reformliste ist lang und in ihrer Fülle als Reformstau (siehe offener Brief in dieser Ausgabe) umfassend beschrieben. Die Angst vor einem Zerbrechen der kirchlichen Einheit wirkt lähmend.
Während ein Großteil der Bevölkerung längst jedes mitfühlende Interesse an der Kirche verloren zu haben scheint, teilen sich die letzten Engagierten, ob progressiv oder konservativ, in Nischenbewegungen, die schon längst die Realität der zerbrochenen Kircheneinheit unübersehbar abbilden.
Die hilflosen Versuche der kirchlich Verantwortlichen die Not durch Errichtung von Megapfarreien, Pfarrverbänden und einer deutlich stärkeren Beteiligung von Frauen in verantwortlichen Ämtern der Kirchenverwaltung zu lindern, kann als letzte Weisheit niemanden wirklich überzeugen.
Alle, denen es um die Kirche geht (sentire cum ecclesia), sind sich sicher einig darin, dass es der kirchlichen Erneuerung bedarf. Auf der einen Seite wird dies im Sinne einer notwendigen Neuevangelisierung, insbesondere durch neue Glaubensvermittlung und konsequente Umsetzung der christlichen Morallehre, auf der anderen Seite durch Akzeptanz neuer gesellschaftlicher Realitäten versucht. Stehen beide Ansätze wirklich so unvermittelbar gegeneinander, wie es von den jeweiligen Protagonisten oft suggeriert wird? Geht es nicht beiden um Rückgewinnung von Glaubwürdigkeit in kirchlicher Lehre und Praxis?
Damit stellt sich die Frage: Wie kann Reform in einem katholischen Sinne angelegt sein, welche Instrumentarien der Erneuerung stehen der Kirche zur Verfügung? Genau darum geht es dem Münsteraner Dogmatiker Michael Seewald (*1987) in seinem diesbezüglichen Essay. Mit Seewald hat die Kirche einen ausgesprochen klugen Berater gefunden, der das Wissen der Alten mit den Realitäten der Jungen in Beziehung zu setzen vermag. Hier spricht eine junge Generation, die dennoch aus den Tiefen der Tradition zu schöpfen vermag.
Seewald geht es nicht darum eine Reformagenda aufzuführen und auf ihre Plausibilität hin abzuklopfen, sondern er versucht Kriterien aufzuzeigen, um katholische Reformmöglichkeiten anzubieten. Es ist dabei nicht seine Absicht das Brot der Reform auf den Tisch zu legen, sondern zunächst lediglich das Besteck zu deren Bewältigung.
Daher stellt er zuerst einmal klar, dass die Kirche, so wie sie heute erscheint nicht immer schon war. Die heutige Gestalt der Kirche entspricht zahlreicher Reformbemühungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Wer über kirchliche Reformen sprechen will, muss sich daher des unaufhörlichen Reformprozesses der Kirche bewusst werden. Auch wenn dieser selbstverständlich nie frei vom jeweiligen Zeitgeist erscheint, kann er diesem jedoch auch nie im Letzten verpflichtet sein. Jede Reform muss vor der Offenbarung und der kirchlichen Überlieferung verantwortet werden. Die Kirche verdankt sich nicht Brüchen, sondern Kontinuität, bleibt – in welchem Gewand auch immer – ihrem inneren Wesen verpflichtet.
Diese Voraussetzung spiegelt die gegenwärtige Lage eigentlich sehr gut wider: kontinuierlicher Reformprozess versus ewigen Beharrens. Die Aufgabe, innerhalb dieser Rahmenbedingung, die Lehre immer wieder neu zu formulieren und in eine realisierbare Praxis zu überführen, obliegt dem kirchlichen Lehramt.
Das Magisterium der Kirche, wurde oft und wird es zuweilen noch heute mit dem Papst gleichgesetzt. Der Papst entscheidet, er verändert das Kirchenrecht oder den Katechismus, lehrt durch seine Enzykliken oder sogar durch die Verkündigung unfehlbarer Lehrsätze. Nun weist Seewald allerdings ganz zu Recht daraufhin, dass eine solche Sicht auf das Amt des Bischofs von Rom erst im 19. Jahrhundert entstanden ist, dass das Magisterium sowohl davor, als auch danach deutlich weiter gefasst wurde. So spricht das zweite Vatikanische Konzil vom Kollegium der Bischöfe. Das episkopale Magisterium erstreckt sich offenbar von der Lehrgewalt der einzelnen Ortsbischöfe, über die Bischofskonferenzen, über das Kollegium der Bischöfe unter Vorsitz des römischen Bischofs, bis hin zu dessen singulären Funktionsmöglichkeiten. Das episkopale Magisterium ist folglich nicht in einem statischen, sondern in einem dynamischen Sinne zu verstehen.
Die Dynamik des kirchlichen Lehramtes gewinnt darüber hinaus an Fahrt, wenn man sich bewusst wird, dass das Lehramt nicht allein durch die Bischöfe repräsentiert wird. So war man sich in alten Zeiten immer auch bewusst, dass auch die Theologen Anteil am Lehramt haben. Dass diese im Gespräch miteinander erforschen und im Disput gegeneinander herauskristallisieren, was ein angemessener Ausdruck kirchlichen Denkens heute sein kann. Die Theologen arbeiten den Bischöfen zu, denken diesen voraus und bieten ihnen Argumentationen an. Die Bischöfe wiederum mögen die Dispute schließlich entscheiden und unter sich in Eintracht Mehrheiten für oder gegen bestimmte theologische Formulierungen finden.
Schließlich besteht das Magisterium der Kirche noch aus einer dritten Ebene, aus dem Volk Gottes, welches in seiner Ganzheit niemals irren kann. Dieses glaubt, bewahrt, realisiert die kirchliche Lehre. Wer sich also an kirchlichen Reformen versuchen will, sollte sich zuallererst befragen, ob er oder sie bereit ist, dass ganze kirchliche Magisterium in all seiner Dynamik mit in die Erneuerungsprozesse einzubeziehen.
Eher unbeabsichtigt erinnern die Ausführungen des Dogmatikers an die theologischen und kirchenpolitischen Diskussionen, wie sie von Döllinger und Newmann bereits im 19. Jahrhundert geführt wurden. Gerade an dieser Stelle zeigt sich, wie notwendig die altkatholische Bewegung bis heute für die katholische Kirche als Ganzes ist.
Aus der Fülle vergangener katholischer Reformen greift Seewald das Weihesakrament heraus. Die Apostel und deren Schüler setzten ihre Nachfolger, die Bischöfe, durch den Gestus der Handauflegung ein. Dieser Gestus entstammt der jüdischen Tradition, in welcher der Rabbi seinen Schüler durch Handauflegung ordiniert. Im frühen Mittelalter wurde diese Amtsübertragung durch weitere Gesten ausgestaltet. So wurden den Klerikern nun die für ihren Dienst notwendigen Geräte überreicht. Auf dem Konzil von Basel-Ferrara-Florenz (1431-45) wurde dann allerdings dogmatisch festgelegt, dass die Materie der Ordination nicht in der Handauflegung zu sehen ist, sondern in der Übergabe der Insignien. „So wird das Priestertum übertragen durch die Darreichung des Kelches mit Wein und der Patene mit Brot, das Diakonat durch das Geben des Evangelienbuches, das Subdiakonat durch die Übergabe des leeren Kelches mit der daraufgelegten leeren Patene“ (DH 1326).
Wohingegen die Form der Ordination in den begleitenden Deuteworten zu finden sei: „Empfange die Vollmacht, das Opfer für Lebende und Tote in der Kirche darzubringen, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (DH1326).
Die Konsekration des Bischofs wurde vom Konzil nicht weiter ausgeführt, da man diese nicht sakramental, sondern lediglich als volle rechtliche Ausgestaltung des priesterlichen Amtes verstand. Der Bischof sei der „minister ordinarius“ der Priesterweihe. Wenn auch nicht näher thematisiert, ergibt sich daraus, dass jeder Priester durchaus auch als „minister extraordinarius“ fungieren könnte. Die Fähigkeit zur Priesterweihe wäre damit folglich lediglich rechtlich, nicht jedoch sakramental an das Bischofsamt gebunden.
Dieselbe Situation findet sich bis heute bei der Spendung des Sakramentes der Firmung.
Die hier beschriebene Lehre zur Ordination bestand bis 1947, als sie durch Papst Pius XII in Sacramentum ordinis erheblich korrigiert wurde. Erst ab jetzt spricht das kirchliche Lehramt von der „sacra ordinatio diaconatus, presbyteratus et episcopatus“ (DH 3858). Von nun an werden die Termini der Konsekration und der Ordination eines Bischofs synonym verwendet.
Konsequenterweise ist der Bischof nun auch nicht mehr der Spender ordinarius, sondern der Spender des Weihesakramentes. Zur einzigen Materie des Weihesakramentes wird ab diesem Zeitpunkt wieder die ursprüngliche Handauflegung und die Form findet sich von nun an im Weihegebet. Die Übergabe der Geräte verliert ausdrücklich jede Bedeutung für die Gültigkeit der Ordination.
Alle rechtmäßig getroffen Anordnungen durch die bisherigen Konzilien und Päpste, die etwas anderes lehren hebt der Papst durch seine persönliche Apostolische Autorität auf (DH 3859).
Der Papst erklärt, dass die von ihm vorgenommenen Änderungen an Form, Materie und implizit auch am Spender des Sakramentes, dessen unveränderbare von Christus selbst eingesetzte Substanz nicht verändere (DH 3857). Abgesehen von der Substanz habe die Kirche jedoch das Recht, alles was sie festgelegt habe, auch zu verändern und abzuschaffen (DH 3858). Die Kirche ist folglich in der Lage sich selbst zu korrigieren und zwischen einer bisher legitimen Lehre und einer künftig legitimen Lehre zu differenzieren.
Während die Kompetenz zur Veränderung von Pius XII sehr weit gefasst wurde, hat sich die Perspektive im Pontifikat von Johannes Paul II in ähnlicher Frage deutlich verengt. Der Erfolg jeder kirchlichen Reform liegt daher in der Grundvoraussetzung, welchen Kompetenzrahmen sich die Kirche von vornherein zugesteht und auch allgemein anerkennt. Sieht sie die Veränderung allein in bisheriger kirchlicher Lehre und Praxis, oder fürchtet sie die Substanz göttlichen Rechts zu berühren?
Daher besteht einer der größten Hemmschuhe für Reformen in der katholischen Kirche im gegenwärtigen Identitätsdiskurs, welcher sich in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Vatikanum zunehmend verengt zu haben scheint.
Reformen lassen sich im Katholizismus folglich leichter umsetzen, wenn man sie im Gegensatz zur weltlichen (politischen) Logik nicht zu Fragen von zentraler, grundsätzlicher Bedeutung hochschaukelt, sondern eher auf der Ebene praktischer Anwendung verbleibt.
Seewald verweist ferner darauf, dass es dem kirchlichen Lehramt stets möglich war bisherige Lehren (z.B. Monogenismus), ohne diese ausdrücklich aufzuheben, schlicht zu vergessen. Und anders herum einst verurteilte Lehren (z.B. Menschenrechte, Religionsfreiheit) in das eigene Denken offiziell zu integrieren. Schließlich warnt der Dogmatiker davor immer nur von Reformen zu sprechen. Ist doch mit diesem Begriff allzusehr die Rückkehr zu irgendeinem vermeintlichen Ideal der Vergangenheit verbunden. Als ob es in der Kirche nichts Neues geben könnte oder dürfte. Die Kirche hat daher immer wieder neu zu entscheiden, will sie die Menschheit lediglich durch das Museum des christlichen Glaubens führen, oder das Evangelium mit Vollmacht stets neu verkünden.
Literatur: Michael Seewald, Reform, Dieselbe Kirche anders denken, Freiburg 2019.
Komm, o Heiliger Geist! Erleuchte meinen Verstand, damit ich deine Gebote erkenne; mach mein Herz stark gegen die Anschläge des Feindes; entflamme meinen Willen. Ich habe deine Stimme gehört, und ich möchte nicht hart werden und Widerstand leisten, indem ich sage: später, morgen. „Nunc coepi!“ Jetzt, damit mir das Morgen nicht vielleicht fehlt. O Geist der Wahrheit und der Weisheit, Geist des Versandes und des Rates, Geist des Jubels und des Friedens! Ich will, was du willst; ich will, wie du willst; ich will, wann du willst.
Josefmaria Escrivá
Offener Brief an die Deutsche Bischofskonferenz und an das Zentralkomitee der deutschen Katholiken
von Axel Stark (Akademischer Oberrat i.R. Universität Passau, Mitglied bei „Wir-sind-Kirche“)
Passau, den 7. September 2019
Anregungen, Gedanken, Vorschläge, Hoffnungen und Erwartungen aus dem
„pilgernden Volk Gottes in Deutschland“ zum SYNODALEN WEG
Vorbemerkungen:
Papst Franziskus hat seinen Brief vom 29.6.2019 an das „pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ adressiert: Alle getauften Christen sind damit vom Papst angesprochen und in Verantwortung genommen worden. Als Mitglied der röm.-kath. Kirche im Bistum Passau und als katholischer Theologe nehme ich meine Verantwortung wahr und trage hier meine Anregungen, Gedanken, Vorschläge, Hoffnungen und Erwartungen vor. Ich hoffe sehr, dass es auch im Bistum Passau einen synodalen Weg geben wird, denn nach Papst Franziskus kommt zuerst die Synodalität „von unten nach oben“ und dann erst „von oben nach unten“! Ich biete selbstverständlich meine Gesprächsbereitschaft an. Selbst ein ökumenischer Dialog mit den getauften Nichtkatholiken, die auch zum Volk Gottes gehören, ist durch den Papstbrief möglich geworden. Wir können von den Erfahrungen der anderen Christen z.B. in Sachen Synodalität hören und lernen. Nachdem die deutschen Bischöfe einen „Synodalen Weg“ vorgeschlagen haben, hat der Papst diesen Vorschlag positiv aufgegriffen im Wissen darum, dass wir „nicht nur in einer Zeit der Veränderungen leben, sondern vielmehr in einer Zeitenwende, die neue und alte Fragen aufwirft, angesichts derer eine Auseinandersetzung berechtigt und notwendig ist.“
Ermuntert durch den Brief des Papstes
Papst Franziskus ist der Kirche in Deutschland nahe und teilt ihre Sorge um die Zukunft. Diese Unterstützung durch den Papst ist eine große Hilfe und Chance, die mutig zu ergreifen ist. Die Kirche in Deutschland steht nicht allein. Auch die Schweizer Bischöfe planen einen eigenen synodalen Weg (vaticannews 26.8.19). Die Zürcher Kirche beginnt ihren Brief an den Papst, unterschrieben vom Synodalrat und dem Generalvikar, mit folgender Aussage: „Die katholische Kirche steht in Flammen. Das Entsetzliche daran ist: die Hirten, die zum Dienst am Evangelium bestellt wurden, haben diesen Flächenbrand gelegt.“ (www.zhkath.ch vom 30.8.19) Beim Synodalen Weg soll man nach vorn blicken, nicht traditionalistisch nur nach rückwärts oder fundamentalistisch in einer Sackgasse stecken bleiben. Der Synodale Wegerfordert Offenheit für das Wirken des Heiligen Geistes und verlangt eine pastorale Bekehrung (Papst Franziskus).Dieser Weg und Prozess hört niemals auf, er ist ein permanenter und zeichnet eine lebendige Kirche aus. Der Synodale Weg darf nicht zu einem bloßen Meinungsaustausch ohne spürbare Veränderungen verkümmern: erforderlich sind konkrete, erfahrbare und überprüfbare Ergebnisse. Ein Synodaler „Schein-Weg“ wäre Gift für die Kirche in Deutschland, gebrauchtwird eine neue Vitalität der Kirche. Ich hoffe, dass ohne Tabus über alles gesprochen wird, denn unterdrückte Fragen und Probleme verschlimmern nur die Lage. Folgenden Versuchungen, die der Kirche schaden, ist zu widerstehen: Sündenböcke für die Krise suchen, um von den wirklich Verantwortlichen abzulenken; die Schuld an der Krise einer „bösen Welt“ zuschieben; tabuisieren, vertuschen, in Passivität erstarren, notwendige Dialoge manipulieren, unterbinden und verbieten sowie mit der „Keule des Häresieverdachts“ den Reformern zu drohen. Wir leiden gegenwärtig unter einem riesigen Reformstau, der die Kirche zu spalten droht. Manche sehen eine faktische Spaltung schon als gegeben an. Auf dem Synodalen Weg sind perfekte Lösungen zwar nicht zu erwarten. In „gelassener Leidenschaft“ muss aber schrittweise an echten Lösungen und Konsequenzen gearbeitet werden.
Reform an Haupt und Gliedern – Tradition nicht Traditionalismus
Die „Reform an Haupt und Gliedern“, im Mittelalter als Forderung schon erhoben, ist ein bleibendes und notwendiges Ziel in der Kirche! Darum: wer heute keine Kirchenspaltung will bzw. die vorhandenen Spaltungen abbauen will, der muss ehrlich und konsequent den Weg der Reform gehen. Tradition und Reformen sind keine Gegensätze, sondern sie gehören zusammen und ergänzen sich (Kardinal Marx, BR 3.8.2019). Das Argument mit der Tradition der Kirche darf kein Totschlagargument für den Synodalen Weg werden. Tradition soll „das Feuer am Leben erhalten, statt lediglich die Asche zu bewahren“. Echte Tradition ist eine lebendige, vielfältig-katholische. Es geht der Tradition um Glaube, Liebe und Hoffnung. Es geht um das Evangelium Jesu Christi, um die Verkündigung der Barmherzigkeit Gottes. Wir beten seit alters her zu Gott, den „barmherzigen Vater-unser“. Es geht um die bleibende Aufgabe einer barmherzigen und dienenden kirchlichen Praxis, um das Reich Gottes hier und heute und das Reich Gottes vor uns, um das „Leben in Fülle“ und das „Heil der Seelen. Tradition ist ein lebendiger, lebensförderlicher, dynamischer und kein statischer Prozess. Tradition nimmt den Christen „nicht die Luft zum Atmen“! Tradition motiviert zu einem aggiornamento des Christentums heute! Bei der Tradition geht es deshalb nie nur um Vergangenheit, sondern immer auch um die Gegenwart und die Zukunft. Tradition ist im Lichte der Zeichen der Zeit zu sehen und zu gestalten. Tradition motiviert auch dazu, die heutigen Krisen und Probleme mutig anzupacken und nicht resignativ und pessimistisch den „Unglückspropheten“ zu folgen, vor denen schon Papst Johannes XXIII. zu Recht zu Konzilsbeginn gewarnt hat. Offenheit für das Wirken des Heiligen Geistes, nicht nur in der Mitte, sondern auch an den Rändern der Kirche und darüber hinaus, nimmt die Geschichtlichkeit, die Gestaltungsverantwortung und den jeweiligen Kontext des Volkes Gottes ernst. Beim Synodalen Weg eine technokratische Methode zu wählen, würde zum Scheitern führen. Der Papst warnt zu Recht vor diesem Fehler. Nötig ist dagegen ein umfassender, ganzheitlicher Bekehrungsprozess an Haupt und Gliedern: greifbare Konsequenzen sind dringend erforderlich in der gesamten kirchlichen Praxis, d.h. in der Spiritualität, Pastoral, Diakonie, Theologie, besonders in der Dogmatik und im Kirchenrecht, in der kirchlichen (Vermögens-, Finanz-) Verwaltung, im kirchlichen Gerichtswesen und in den Beziehungen der Kirche zum Staat und zur Gesellschaft. Die Kirche „krankt“ heute leider an sehr vielen Stellen. Heilung ist möglich, erfordert aber eine große Anstrengung und Kooperation aller Menschen guten Willens in der Kirche und nicht erst in ferner Zukunft. Ökumenische Hilfe ist zudem dankbar anzunehmen. Aus Erfahrung kann man sagen: wer zu spät kommt, den bestraft das Leben bzw. er verfehlt den kairos. Zum Verhältnis der Ortskirchen zur Weltkirche und zur Aufgabe der Einheit der Kirche: Einheit wird missverstanden und verfehlt, wenn man sie als Uniformität definiert. Sie ist eine Einheit in der Vielfalt. Berechtigte Belange jeder Ortskirche sollten von der Weltkirche ehrlich aufgegriffen und nicht unterdrückt werden. Weltkirche gibt es nicht ohne Ortskirchen.
Solidarität und Subsidarität
Das durchaus legitime Argument mit der Weltkirche bzw. der Einheit der Ortskirchen darf aber nicht als Ausrede für mangelnde Kirchenreform missbraucht werden. Auch die Weltkirche ist immer unvollendet und pilgernd auf die erhoffte Vollendung im Reich Gotteshin. Es darf kein Entweder Ortskirche-Oder Weltkirche geben. Das Subsidiaritätsprinzip und das Solidaritätsprinzip gelten nach Papst Pius XII. auch in der Kirche, nicht nur in der Gesellschaft. Der Papst und seine Kurie haben den Dienst der Einheit zu leisten, sind aber nicht mit „der Weltkirche“ einfach gleichzusetzen, die mehr ist als die Ortskirche von Romund die Kurie. Es gab und muss die Möglichkeit geben, dass Ortskirchen erlaubterweise einen neuen, teil weise anderen Weg gehen. So gibt es z.B. bei den unierten Ortskirchen eigeneliturgische Regelungen und auch seit dem 15. Jahrhundert verheiratete Diakone und Priester. Wenn man auf die Kirchengeschichte genau hinsieht, ist die Vielfalt des Katholischen vielgrößer als man heute oft annimmt! Wer durch zentralistischen Druck eine Kirchenspaltung verhindern will, provoziert sie dagegen. Seit die katholische Kirche nicht mehr allein europäisch geprägt ist, sondern eine kulturell-gesellschaftliche Weltkirche geworden ist, gibt es entsprechende Unterschiede zwischen den Ortskirchen. In einem interkulturellen Dialog zwischen den verschiedenen Ortskirchen ist über diese Unterschiede geschwisterlich zu sprechen. So gibt es faktisch unterschiedliche Haltungen und Einstellungen u.a. zur Rolle der Frauen und Männer, zur Sexualität und zu sexuellen Minderheiten, wie es sich z.B. bei der letzten Familiensynode gezeigt hat. Diese Unterschiede muss die Kirche aushalten können. Sie dürfen nicht als Begründung für Drohungen und Erpressungen mit einer Kirchenspaltung instrumentalisiert werden. Eine Offenheit für einen Dialog ohne Zwang, geführt mit Argumenten, eine Bereitschaft zum „guten Willen“, gegenseitiges Grundvertrauen und das Hören auf die Argumente der Theologie sind möglich und nötig. Echte Einheit lässt sich nicht durch Unterdrückung und Zwang herstellen. Ein ökumenischer Erfahrungsaustausch ist dabei sicherlich hilfreich. Der Synodale Weg ist mit einer Bildungs- und Informationsaufgabe in der Kirche verbunden. Defizite bei der Bildung und der Informationsaufgabe verschlimmern nur die Lage und erschweren die Lösungsversuche. Das verbietet Vertuschen, Schönreden und eine ideologische Manipulation durch kirchliche Behörden. Rechtzeitig und ständig sind das Bewusstsein und das Wissen von der Sendung der Kirche, ihren Aufgaben, ihren vorhandenen Mängeln, Defiziten und ihren bisherigen positiven Leistungen zu schärfen und die verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten zu klären und abzuwägen. Veränderungen durch Reformen müssen vorbereitet, erklärt, begründet und begleitet werden. Reformen durch einfache Befehle sind nicht mehr zeitgemäß. Der Synodale Weg erfordert eine bestimmte spirituelle Haltung. Diese zeichnet sich durch die Offenheit für das Wirken des Heiligen Geistes, durch einen festen Willen zum Aufbruch im Geiste des Evangeliums und durch den Willen, den Synodalen Wegkonsequent zu gehen. Sie zeichnet sich aus durch den Willen zum Exodus und zum Pilgern, durch die Fähigkeit der Unterscheidung und Kritik, durch die Orientierung an der Botschaft vom Reich Gottes hier und heute und der Hoffnung auf die künftige Vollendung in Gott! Von fundamentalistischen und rechten Katholiken wie Steve Bannon, dem italienischen Politiker Salvini oder der antidemokratischen, antiökumenischen, antisemitischen und antimodernistischen Piusbruderschaft hat sich die Kirche deutlich abzugrenzen! Solche Kreise, zahlenmäßig klein, medial einflussreich, fake news produzierend und finanziell gutausgestattet in und am Rande der Kirche wirken spaltend auf die Kirche ein, verraten das Evangelium und instrumentalisieren ihre religiösen Vorstellungen für ihre politisch-ökonomischen Interessen. Mit den Grundsätzen der Katholischen Soziallehre stehen sie im deutlichen Widerspruch, obwohl sie dies leugnen. (Vgl. das neue Buch von Nicolas Senèze, „Wie Amerika den Papst loswerden will“, vaticannews vom 5.9.19)
KURZFASSUNG in Stichworten
Ich hoffe
Zu den vier Foren des Synodalen Wegs:
MACHT, PARTIZIPATION UND GEWALTENTEILUNG IN DER KIRCHE
Der Dialog über den verantwortlichen Gebrauch der Macht in der Kirche darf nichtmanipuliert, unterbunden und tabuisiert werden. Offen und ehrlich soll er von allen geführt werden können. Macht gab und gibt es in der Kirche. Sie wird es auch in Zukunft geben. Macht kann verantwortlichgebraucht oder unverantwortlich missbraucht werden. Beispiele für beide Verhaltensweisen finden sich zuhauf in der Kirchengeschichte. Die Aufgabe der „Unterscheidung“, die Befähigung zur Kritik, das Vorhandensein von Transparenz, praktizierte Machtkontrolle und Gewaltenteilung sind deshalb nötig. Auf die Notwendigkeit einer christlichen Ethik der Macht weist schon Jesus (Mt 20, 25-27,EÜ 2018) hin: „Da rief Jesus sie (die Jünger, AS) zu sich und sagte: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Großen ihre Vollmachtgegen sie gebrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein.“ Maria preist im Magnificat „den Herrn, der die Mächtigen vom Throne stürzt und die Niedrigen erhöht.“ Einer der vielen Papsttitel weist in die richtige Richtung: der Papst sei „Diener der Diener Gottes“! Leitbild soll der mündige, aufgeklärte, selbstverantwortliche und solidarische Christ sein, nicht der „gehorsame, Ja und Amen sagende Untertan“ aus früheren obrigkeitsstaatlichen und fürstbischöflichen Zeiten. Partizipation statt Unterdrückung oder Passivität ist gefordert! Wer partizipieren kann, wird weniger in Versuchung sein, sich von der Kirche schleichend zu distanzieren. Barmherzigkeit und Frieden innerhalb der Kirche und durch sie in die Gesellschaft getragen sind wichtige Aufgaben der kirchlichen Sendung. Die Freiheit der Töchter und Söhne Gottes soll erlebbar sein und ausstrahlen. Die Kirche hat nicht als unfreie, unterdrückende, unnötige Lasten aufladende Kirche eine Chance, sondern nur als Kirche der erfahrbaren Freiheit. Leider sieht es heute noch anders aus: „Nicht als Sakrament der Gottesherrschaft wird sie (die Kirche, AS) wahrgenommen, sondern als klerikalistisch-absolutistisches System der Unfreiheit, das Lebens-Verzicht durch Machtgewinn ausgleicht; als System des Misstrauens und des Missbrauchs, des Misstrauens in die Glaubens- und Zeugnis-Mündigkeit der Menschen, des Missbrauchs ihrer anspruchsvollsten Hoffnungen.“(Jürgen Werbick, Christlich glauben S.312).Bisher gelten bei Machtmissbrauch in der Kirche keine rechtstaatlichen und rechtsethischen Standards auf der Höhe unserer Rechtskultur! Das Kirchenrecht versagt und hinkt veraltet weit hinterher. So zeigt der Freispruch von P. Hermann Geißler (früher: Glaubenskongregation) durch die Apostolische Signatur ohne Anhörung des Opfers (=Doris Reisinger, geb. Wagner), welche Verbesserungen in der kirchlichen Rechtskultur noch bitter notwendig sind. Dieser Freispruch wird von einem Kirchenrechtsprofessor als „Skandal-Urteil“ bewertet. Das Opfer wird das Urteil als Hohn und Ungerechtigkeit empfinden. Dabei hat das Kirchenrecht dem Gemeinwohl der Kirche, dem „Heil der Seelen“ (can. 1752CIC/1983), d.h. dem Schutz der Opfer, nicht dem Schutz der Täter, sondern dem ganzen Volk Gottes zu dienen und nicht einem kleinen männlichen Machtzirkel. Gerade in einer Weltkirche ist Kirchenrecht auf der Höhe der Zeit und Rechtskultur für die Einheit in Vielfaltnotwendig. Menschenrechte müssen ohne Abstriche in der Kirche gelten, was sie bisher nicht tun! Der Gefahr und Versuchung eines klerikalistischen und frauenfeindlichen Kirchenrechts ist schnell und deutlich zu widerstehen. Der CIC von 1983 muss deshalb schnell und grundlegend überarbeitet werden. Der CIC hat das Zweite Vatikanische Konzil nur teilweise und einseitig rezipiert. Es muss aber das ganze Zweite Vatikanische Konzil im Lichte der heutigen Zeichen der Zeit kirchenrechtlich rezipiert werden! Diese Aufgabe ist keine, die die deutsche Kirche allein leisten kann. Sie kann aber bei dieser gesamtkirchlichen Aufgabe auf deren Notwendigkeit hinweisen und dann mithelfen. Bis zur Überarbeitung des CIC müssen ortskirchliche Sonderwege möglich sein. Das Kirchenrecht ist ja erst seit 1917 durch den ersten CIC ein einheitliches geworden. Vorher gab es viel mehr Vielfalt im Kirchenrecht, das hatte auch viele Vorteile. Das Recht der Weltkirche sollte mit Blick auf die Einheit in Vielfalt ein subsidiäres Recht sein, das ortskirchliche Verantwortung nicht unterdrückt. Die Verantwortung für die Überarbeitung des CIC tragen alle Ortskirchen zusammen mit der Weltkirche. Wer diese notwendige Kirchenrechtsreform blockieren will, spaltet die Kirche, auch wenn er das Gegenteil behauptet. Reformaufgaben sind z.B. der Aufbau einer kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit und eines modernen Verwaltungsrechts. Das Bischofsamt muss zu seiner eigenen Glaubwürdigkeit vom politischen Modell des Absolutismus in seiner Struktur und Organisation befreit werden, d.h. sich nicht am Modell des Monepiskopats ausrichten, sondern sich synodal integrieren. Der Monepiskopat verdankt man einem früheren „Zeitgeist“des Absolutismus. Das widerspricht aber dem eigentlichen Evangelium Jesu Christi! Unbedingt notwendig sind die Gewaltenteilung in der Kirche, die Einführung eines synodalverantwortlichen Bischof-, Priester- und Diakonenamtes und eine grundlegende Überarbeitung des kirchlichen Verfassungsrechts mit eigener Verfassungsgerichtsbarkeit. Wer das kirchliche Vermögen verwaltet, übt Macht aus und zwar keine geringe! Deshalbmuss diese Machtausübung genau kontrolliert werden. Transparenz über das gesamte kirchliche Vermögen ist Voraussetzung dafür und wegen der bisherigen Vertuschungen bitternötig. Rechtliche Grundlage muss sein, dass das kirchliche Vermögen und Eigentum dem gesamten pilgernden Volk Gottes gehört und nicht einem kleinen Machtzirkel. Das Zweite Vaticanum fordert im Art. 76 von Gaudium et spes den Verzicht auf Privilegien und Rechte: „Doch setzt sie (=die Kirche, AS) ihre Hoffnung nicht auf Privilegien, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden. Sie wird sogar auf die Ausübung von legitim erworbenen Rechten verzichten, wenn feststeht, dass durch deren Inanspruchnahme die Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist, oder wenn veränderte Lebensverhältnisse eine andere Regelung erfordern.“ Privilegien, Prunk und Luxus stellen die Lauterkeit deskirchlichen Zeugnisses in Frage und verdunkeln das Bild der Kirche. Die Abhängigkeit einer reichen Kirche von den jeweiligen Wirtschaftseliten und deren politisch-ökonomischer Interessen pervertiert den Sendungsauftrag der Kirche. Kirche soll Anwalt und Stimme der „Armen und Ohn-mächtigen“, der Deklassierten, Marginalisierten, Diskriminierten, Unterdrückten, der Opfer der Gesellschaft und Wirtschaft sein. Wie im Ordensrecht schon seit längerer Zeit geregelt, z.B. bei den Bettelorden seit dem Hochmittelalter, sollte es in den Bistümern nur Ämter auf Zeit geben. Bei der Ernennung für kirchliche Ämter ist statt Geheimverfahren das synodale Prinzip mit der Partizipation des Volkes Gottes zu praktizieren. Dass seit 1924 Bischöfe in Bayern ohne rechtliche Mitwirkung der Ortskirchen allein von Rom ernannt werden, ist an eine veraltete autoritäre kirchenrechtliche Sichtweise gebunden, die dringend abgeschafft werden muss. Nach dem Kirchenrecht gibt es jetzt schon mögliche Alternativen.
SEXUELLER UND SPIRITUELLER MISSBRAUCH, KIRCHENAMTLICHE VERTUSCHUNG, CHRISTLICHE SEXUALMORAL
Der jahrzehntelange (oder jahrhundertelange?) sexuelle und spirituelle Missbrauch und seine systematische kirchenamtliche Vertuschung sind offen und ehrlich aufzuarbeiten. Es geht um den weltweiten Missbrauch Abhängiger, seien es Kinder, Jugendliche oder Ordensfrauen, vielleicht auch mancher Ordensmänner. Dies war und ist eine Schande und ein Kapitalverbrechen. Die Menschenwürde dieser Opfer wurde und wird mit Füßen getreten. Will die Amtskirche nicht zur „kriminellen Vereinigung“ mutieren, muss mühsam und geduldig Vertrauensarbeit und eine radikale Präventionsarbeit geleistet werden. Nicht das Leugnen, sondern Transparenz und das Bekenntnis der eigenen Schuld sind notwendig. Der angerichtete Schaden muss, sofern noch möglich, wiedergutgemacht werden. Bisherige Ansätze von Prävention und Wiedergutmachung müssen weitergeführt und verbessert werden. Kirchliche Amtsträger, die die Missbrauchsverbrechen öffentlich gemacht haben, müssen rehabilitiert werden, sie sind keine Nestbeschmutzer! „Nestbeschmutzer“ sind die Täter und Vertuscher. Auf Domradio Köln (16.8.19) äußern sich betroffene Bischöfe so: „Sei verantwortungsbewusst, sei transparent und sage die Wahrheit, darin bestünden für ihn, US-Bischof Malesic, nach unzähligen Gesprächen mit Betroffenen die Lehren aus der Krise. Der frühere Primas von Irland, Kardinal Sean Brady, wegen ungenügender Wahrnehmung seiner Aufsichts- und Kontrollpflicht in der Kritik, gibt zu, dass man sich falscherweise nicht um die Opfer, sondern um die Täter gekümmert und einen Schleier des Schweigens und der Geheimhaltung darüber gelegt habe.“
An einer ehrlichen Analyse der vielfältigen individuellen, sozialen, institutionellen, rechtlichen und spirituellen Ursachen des Missbrauchs und der Vertuschung führt kein Wegvorbei! An Ursachen zu nennen sind u.a. die societas-perfecta-Lehre, die dazu geführt hat, dass die Amtskirche alles intern ohne Öffentlichkeit, Prävention und ohne Kooperation mitweltlichen Gerichten regeln wollte; weiter ist die ecclesia-sancta-Ekklesiologie zu nennen, die als oberstes Ziel das „Image der Institution Kirche als heilige Kirche“ hat und damit die Institution und ihre Amtsträger quasi sakralisiert und den Schutz der Opfer und die Prävention missachtet. In einer wirklich christlichen Kirche darf es keine leibfeindliche, frauenfeindliche und klerikalistische Sexualmoral geben. Das schließt einerseits Sonderrechte für Kleriker aus. Moralischer Druck auf die Laien, besonders auf die Frauen, durch männliche Kleriker darf es nicht mehr geben. Früher gab es Sonderrechte des Adels, heute der Reichen und Mächtigen. Das hat mit einer christlichen Moral nichts zu tun. Diese hat die Aufgabe, besonders die Schwachen, die Opfer, die Marginalisierten und Diskriminierten zu schützen und lebensförderlich zu begleiten. Die Vielfalt der menschlichen sexuellen Orientierungen muss von der Kirche offiziell anerkannt werden. Das ist mehr als überfällig! Es darf keine Diskriminierung der verschiedenen nicht-heterosexuellen Orientierungen (Homo-, Bi-,Trans-, A-sexualität usw.) geben. Gewalt, Sanktionen und Vorurteile gegen sexuelle Minderheiten bis hin zur Todesstrafe wie es sie früher in Deutschland gab und in Teilen der Weltkirche noch gibt, müssen tabu sein. Frühere und gegenwärtige kirchliche Verfehlungen sind zu bekennen, künftige zu vermeiden. Schaden ist, sofern noch möglich, wieder gut zu machen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus Medizin, Humanwissenschaften und der Philosophie der Gegenwart sollten offen, ehrlich und dann durchaus auch kritisch rezipiert werden. Es darf kein engstirniges Beharren auf veralteten Erkenntnissen, Ideologien und Vorurteilen mehr geben. „Wer gegen alle Fragen der Vernunft auf Verboten und Vorurteilen beharrt, führt die Kirche in ein intellektuelles und kulturelles Ghetto. Kirchliche Texte hinken im Bereich der Sexuallehre und generell des Geschlechterverhältnisses nicht seltenerheblich hinter heutigen theologischen und sexualwissenschaftlichen Erkenntnissen hinterher.“ (Stephan Goertz, Domradio Köln v.5.9.19)
Offen und ehrlich ist anzuerkennen und nicht wie bisher zu leugnen, dass es zahlreiche homosexuelle Geistliche in der Kirche gab und gibt, bis hinauf in die höchsten kirchlichen Ämter. Homosexuelle Geistliche darf man nicht zur Verleugnung ihrer sexuellen Orientierung in der Kirche zwingen, das macht sie krank und kann zu einem Doppelleben und zu einer Doppelmoral führen. All das schadet dann allen, auch den heterosexuellen Mitgliedern der Kirche. So ist dem Weihbischof Dieter Geerlings (Domradio Köln vom 16.8.19) zuzustimmen, der sich für eine Segnung homosexueller Paare ausspricht. Voraussetzung ist, dass die Gleichgeschlechtlichkeit von der Kirche nicht als irregulär und sündhaft beurteilt wird. Das ist bei gutem Willen und ohne ideologische Festlegung möglich. Bischof Bode und Erzbischof Heße (vgl. vaticannews vom 28.8.19) sprechen sich für einen „offeneren Umgang der Kirche mit Homosexuellen“ aus. Jetzt wird es darauf ankommen, diese richtige Aussageinhaltlich zu füllen und zu konkretisieren. Die Kirche kann heute nicht mehr autoritär-punitiv, d.h. befehlend und bestrafend, eine(Sexual-) Moralvertreten und „von oben“ aufzwingen. Sie hat barmherzig und dienend die Menschen vertrauensvoll zu begleiten. Mit vernünftigen Argumenten kann siegewissensbildend wirken. Die dazu notwendigen moraltheologischen Ansätze sind seit Jahrzehnten vorhanden, dürfen aber kirchenamtlich nicht unterdrückt, sondern müssen endlich anerkannt und rezipiert werden. Joseph Ratzinger spricht leider in der Herder-Korrespondenz immer noch von einem „Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie“ und verweigert damit hartnäckig und stur die nötige und überfällige Reform, die er selbst vorher mit allen Mitteln verhindert hat. Korrekturen der bisherigen christlichen Sexualmoral, z.B. von Humanae vitae (1968), sind möglich und bitter nötig. Diese christliche Sexualmoral sollte eine lebensförderliche Hilfe für die verantwortliche Gestaltung von Liebe, Sexualität und Partnerschaft sein, dann wird sie auch wieder im Volk Gottes anerkannt werden. Von der Hälfte des Volkes Gottes, den Frauen, wird sie erst anerkannt, wenn sie als Hilfe und Unterstützung auch für die Gleichberechtigung erfahren wird. Autoritär von oben und von männlichen Klerikern verkündete Moralgesetze sind weder hilfreich noch christlich. Eine christliche (Sexual-)Moral kann deshalb nur durch Partizipation aller Getauften und im Dialog entwickelt und ausgestaltet werden und muss grundsätzlich korrekturoffen bleiben. Sie muss sich öffnen für das Wirken des Heiligen Geistes und für die verschiedenen Zeichen der Zeit.
PRIESTERLICHER DIENST, LEBENSFORM UND PFLICHTZÖLIBAT
Die Tradition der Zwei-Stände-Kirche gab es nicht von Beginn des Christentums an. Erstspäter hat die Kirche über Jahrhunderte, beeinflusst vom damaligen Zeitgeist, auf klerikale Hierarchien gesetzt und sich damit dem Kirchenvolk entfremdet. Diese von Menschen gemachte Kluft zwischen Klerus und Laien sollte die Kirche schnell und deutlich abbauen und beseitigen. Der Klerus ist in das Volk Gottes zu integrieren! Es gibt nur ein Volk Gottes: die Gliederung der Konzilskonstitution Lumen Gentium vertritt diese Position deutlich. Das Volk Gottes-Kapitel steht explizit vor dem Kapitel über die hierarchische Verfassung der Kirche. Im pilgernden Volk Gottes kann und sollte sich eine lebendige Vielfalt von Charismen und Diensten je nach konkreten Bedarf und nach den jeweiligen Zeichen der Zeit entfalten. Für den katholischen Religionssoziologen Franz Xaver Kaufmann stellt der Klerikalismusein Haupthindernis für jegliche Kirchenreform dar. Er fordert deshalb zurecht eine Entkoppelung von Leitungskompetenzen und sakramentalen Kompetenzen in der Kirche. Die katholische Kirche hat, so Kaufmann, die Sonderstellung der Kleriker gegenüber den Laiensystematisch ausgebaut – durch Pflichtzölibat, Gehorsamspflicht, alleinige Verwaltung derSakramente und insbesondere durch das Beichtsakrament. Im 19. Jahrhundert ist der absolutistische, an Rom orientierte Charakter der Klerikerkirche zusätzlich als „göttlichesRecht“ überhöht worden. Mit dieser Überhöhung wird jeder Alternativvorschlag und jede Reform blockiert zum Schaden der Kirche! Wir müssen die Ursachen der bisherigen Defizite und „kirchlichen Sünden“ (Klerikalismus usw.) ehrlich analysieren und aufarbeiten, auch wenn es einigen wehtun wird. Das Beten um mehr geistliche Berufungen wird heuchlerisch bei gleichzeitigem Nichtstun der Verantwortlichen: weder wird die gegenwärtige Krisenlage offen und ehrlich gesehen, sie wird schöngeredet oder einfach nur verwaltet, noch werden zukunftsweisende Konsequenzen gezogen. Negative Folgen sind ein Rückzug der Kirche aus vielen Bereichen der Gesellschaft, ein größer werdender Priestermangel, eine einseitige Auswahl des Priesternachwuchses, fehlende Eucharistiefeiern, Großgemeinden, Anonymität, Burn-out usw. Neben hauptberuflichen Geistlichen sollte es auch nebenberufliche in Deutschland geben wie es jetzt schon bei den Ständigen Diakonen möglich ist. Die bisherige Unterscheidung der Seelsorger in nicht geweihte, meist verheiratete Laien-Theologen (Pastoralreferenten, Gemeindereferenten, Religionslehrer usw.) und in die zölibatären geweihten Theologen ist eine künstliche und sie hat sich in der Praxis nicht bewährt. Die Unterscheidung gibt es erst seit wenigen Jahrzehnten und sollte geändert werden: beide Theologengruppen sind in der Pastoral tätig und dienen beide der kirchlichen Sendung. Beide sollten geweiht werden. Die Weihe darf allerdings nicht mit sakraler Überhöhung verbunden und klerikalistisch interpretiert werden! Verheiratete Priester, die wegen ihrer Heirat aus dem Amt ausscheiden mussten, sollten rehabilitiert und wieder ihren Dienst tun dürfen, wenn sie es wünschen. Es sollte wie schon in anderen christlichen Kirchen männliche und weibliche Diakone, Priester und Bischöfe geben. Der Zölibat als „evangelischer Rat“ ist ein Angebot einer nur freiwillig zu wählenden christlichen Lebensform. Dieses Angebot gilt grundsätzlich für alle Christen. Der Zölibat darf kein autoritär von „oben auferlegtes“ Gesetz und keine Zwangsvoraussetzung für das Weihesakrament mehr sein. Er sollte auch auf Zeit gewählt werden können. Bei folgender Verheiratung darf es dann keine kirchenrechtlichen Sanktionen geben. Ein zölibatäres Leben aus Zwang und Druck ist nicht im Sinne Jesu und ist auch kein evangelischer Rat. Das Ehesakrament kann und darf kein kirchenrechtliches Hindernis für das Weihesakrament sein. Sakramente sind Gnadengaben Gottes, die sich nicht gegenseitig behindern bzw. ausschließen können. Petrus, der erste Papst, war verheiratet (vgl. Mt 8, 14-15; Mk 1 und Lk 4). Der Lebensstil der Priester sollte so gestaltet werden, dass er zur Glaubwürdigkeit und Vitalität der Kirche und des Christentums beiträgt. Das verbietet ein Streben nach Macht und Ehre, Prunk und Reichtum. Die Kritik von Papst Franziskus an den verschiedenen „Kurienkrankheiten“ gilt nicht nur für die päpstliche, sondern auch für die anderen (bischöflichen, Ordens-) Kurien in der Kirche.
FRAUEN IN DIENSTEN UND ÄMTERN DER KIRCHE
Unbedingt notwendig ist die Anerkennung der Würde und der Bedeutung der Frauen in der Kirche, der einen Hälfte des Volkes Gottes. Es darf keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in der Kirche geben! Das widerspricht nicht nur den Menschenrechten, sondern auch dem Neuen Testament: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus.“ (Gal 3,27+28 nach der EÜ2018, vgl. auch Kol 3,11)! Die volle (menschen- und kirchen-) rechtliche Gleichheit der Frauen in der Kirche muss verwirklicht werden. Wer dies zu verhindern sucht, spaltet die Kirche zwischen Frauen und Männern! Folgen sind eine „innere Kündigung“ und ein schleichender Auszug der Frauen aus der Kirche mit negativen Folgen für die Glaubensweitergabe an die nächsten Generationen. Die Kirche schafft sich damit selbst schleichend ab. Das ist nicht die Sendung der Kirche! Mit der Verwirklichung von Gleichheit ist der notwendige Anschluss an die Menschenrechtskultur und Kultur des deutschen Grundgesetzes zu gewinnen. Wenn dieser Anschluss nicht gelingt, schadet sich die Kirche und wird bei ihrer (Sozial-) Verkündigung unglaubwürdig. Es gibt bei genauem Hinsehen und Nachdenken keine echten theologisch-dogmatisch-kirchenrechtlichen Gründe, um Frauen das Weihesakrament zu verweigern. Frauenfeindliche Ideologen in der Kirche behaupten noch immer das Gegenteil. Solche dogmatisch-kirchenrechtliche fake news, mit massiven Drohungen und Verleumdungen verbunden, verbreitet u.a. Kardinal Müller (vgl. z.B. Vatican News vom 27.7.19). Er behauptet u.a., dass Papst Johannes Paul II. 1994 auf ewige Zeiten quasi als Dogma entschieden habe, dass es keine Frauenweihe geben dürfe. Jede Frauenweihe sei deshalb per se ungültig. Die päpstliche Entscheidung von 1994 würde alle weiteren Päpste endgültig binden. Aber die Amtsgewalt eines jeden Papstes endet mit seinem Tod oder Amtsrücktritt. Es gibt keine Päpste 1. Klasse, die ihre Nachfolger zu Päpsten 2. Klasse mit minderen Rechtenherabstufen können. Kein Papst muss die Entscheidungen des Vorgängers blind übernehmen und damit seine eigene Verantwortung verleugnen. Frauenweihen gab und gibt es regelmäßig bei der Weihe einer Äbtissin, die sogar die Jurisdiktionsgewalt eines Bischofs früher ausüben konnten (vgl. H. Wolf). Als Zeichen der Weihe erhalten sie wie Bischöfe Stab, Ring, Kreuz und Mitra. Darum: Frauen müssen grundsätzlich alle sieben Sakramente wie die Männer empfangen können! Aufgrund ihres Geschlechts sind sie nicht auf den Empfang von nur sechs der der sieben Sakramente zu beschränken. Gott hat seinen Bund mit dem gesamten Volk Gottes geschlossen und nicht nur mit einem frauenfeindlichen Männerzirkel.
Die Kirche sollte ihre positiven Ansätze und Beiträge (Förderung der Mädchen- und Frauenbildung, Förderung von Frauenvereinigungen, Frauenorden, Anerkennung der Würde der Frau usw.) ausbauen und ihre Fehler und Sünden (Diskriminierung der Frauen, stattrechtzeitig in der Kirche und dann auch glaubwürdig gesellschaftlich für die Gleichberechtigung der Frauen einzutreten usw.) einsehen, bekennen und aufarbeiten!
CHRISTLICHE REFORMTHEOLOGIE UND STREITKULTUR
Zur weiteren Vertiefung der vielen angesprochenen Themen kann auf die Arbeit vieler Reformtheologen verwiesen werden, die allerdings durch das Lehramt zum Schaden der Kirche ignoriert und marginalisiert (nihil-obstat-Verweigerung oder -Entzug, Berufsverbote, Rufschädigung usw.) wurden. Zur vertiefenden Arbeit an der Aufgabe der Kirchenreform empfehle ich u.a. das Buch von Hans Küng, Kirchenreform (Freiburg 2016, Herder-Verlag, Sämtliche Werke Bd.6). Der Konzilstheologe, Theologieprofessor und Priester bemüht sich seit Konzilszeiten um eine konzils- und evangeliums gemäße Kirchenreform. Weitere Reformtheologen sollten in den verschiedenen Foren des Synodalen Wegs mitarbeiten dürfen. An Namen sind zu nennen z.B. der Kirchenhistoriker Hubert Wolf, der Moraltheologe Daniel Bogner, die Dogmatikerin Johanna Rahner und die Kirchenrechtlerin Sabine Demel. Auf dem synodalen Weg und bei seiner künftigen Rezeption sind heftige Konflikte und Grabenkämpfe zu erwarten. Für den Kurienkardinal Robert Sarah z.B. sind viri probati und Ämter für Frauen „Ungeheuerlichkeiten und ein endgültiger Bruch mit der Tradition der Lateinischen Kirche“. Sarah warnt vor einem „geistlichen und kirchlichen Niedergang, vor dem Untergang der Wahrheit und vor Irrwegen des Abendlandes.“ (katholisch.de vom30.8.19) Mit einer dem Dialog verpflichteten christlichen Streitkultur und in der Hoffnung auf das Wirken des Heiligen Geistes ist diesen „Unheilspropheten“, die es auch schon vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil gab und vor denen Papst Johannes XXIII. warnte, deutlich zu begegnen.
KIRCHE AD INTRA UND AD EXTRA
Wenn die notwendige Arbeit der vier Foren des Synodalen Wegs beendet sein wird, geht die Arbeit aber weiter. Da sich die Kirche „mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden erfährt“ (Gaudium et spes 1), hat man den vielfältigen möglichen Beitrag der Kirche in Deutschland für die Zukunftsaufgaben aller Menschen (Umwelt/Klima, Frieden, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Wohlstand, Freiheit usw.) in den Blick zu bekommen, noch mehr als bisher. Damit weitet sich dann auch der Blick von der Kirche ad intra zurKirche ad extra (Kardinal Suenens). Das ist notwendig, da diese beiden Dimensionen der einen Kirche im Alltag nicht zu trennen sind: sie gehören bleibend zusammen. Darum: Werden Reformstau der Kirche ad intra nicht lösen will, der macht die Kirche unfähig zu ihrer notwendigen Sendung ad extra.
(Dieser persönliche Brief des Autors ist keine Stellungnahme der Christ-Katholischen Kirche oder irgend einer anderen Institution.)
Impressum:
Redaktion: Klaus Mass, Kapellenstraße 7, 85254 Einsbach, pfarramt-christ-katholisch@web.de
Namentlich gekennzeichnete Artikel müssen nicht unbedingt die Lehrmeinung der Kirche wiedergeben.
Leserbriefe sind stets erwünscht.
Quo vadis ecclessia?
Ein Kommentar von Klaus Mass
Es wird zunehmend komplizierter. Kirche wo willst du hin? Papst Franziskus hat offen vor Journalisten (FAZ 12. 09.19) von der Gefahr eines Schismas innerhalb der röm.-kath. Kirche gesprochen. „Sie lächeln dich breit an, und dann stoßen sie dir den Dolch in den Rücken. Sie verabreichen ihre Kritik wie Arsenpillen, einzig darauf aus die Spaltung zu vertiefen.“ Der Papst fürchtet sich nicht vor einem Schisma (Spaltung) die Spalter würden sich vom „Glauben des Volkes Gottes“ entfernen. Hier sieht der Papst den richtigen Orientierungspunkt, nicht im Klerikalismus (Traditionalismus), sondern im lebendigen Glauben des Gottesvolkes. Über die Homogenität oder Pluralität dieses Glauben spricht der Papst natürlich nicht. Die Aufgaben, vor denen die Kirche stehe, sei auch nicht das innerkirchliche kleinklein, sondern die Bewältigung globaler Aufgaben wie Massenmigration, Kampf gegen jede Form von Ausländerfeindlichkeit und der Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung.
So richtig die globale Agenda des Pontifex auch sein mag, sie wird ihn nicht von den innerkirchlichen Reformdebatten befreien. Gleichgültig, welche Reform auch immer er zulässt, oder verhindert, er kann eigentlich nicht gewinnen. Das Hauptproblem aller Dialogprozesse dürfte heute darin liegen, dass zu viel Vertrauen verspielt wurde und die Zeit, in der man alle noch an einen Tisch hätte setzen können, schon längst verpasst wurde. Am Ende wird Johann Michael Sailer wohl leider Recht behalten, das Publikum geht nach der schlechten Komödie enttäuscht nach Hause.
Selbstverständlich kann ein so umfassendes Reformpaket, wie es z.B. der offene Brief ganz subjektiv formuliert, zwangsläufig den „synodalen Weg“ nur überfordern. Doch das Paket benennt alle Themen, um die es zur Zeit geht, und denen sich die Kirche auf welche Weise auch immer stellen muss.
Kardinal Marx hat mit der Einberufung seines „synodalen Weges“ große Hoffnungen erweckt. Diese wird er nur erfüllen können, wenn am Ende wenigstens irgendetwas Substantielles herauskommt. Umso näher der „synodale Weg“ kommt, desto lauter werden auch die kritischen Stimmen an diesem. So werden z.B. die Vorbereitungen, wer, warum, an welchem Panel teilnimmt, als intransparent wahrgenommen. Auch ist es unverständlich, warum das Anliegen konservativer Kreise den „synodalen Weg“ mit einem konkreten Programm für Neuevangelisierung und Katechese zu verbinden vollständig abgelehnt wurde. Sollte, wie bei den Dialogformaten der vergangenen Jahre, alles vollkommen im Ungefähren verbleiben, hätte man sich die Mühe besser gespart.
Nun hat der Vatikan mit einem Brief des Präfekten der Bischofskongregation Kardinal Marc Quellet in die Vorbereitungen des „synodalen Weges“ eingegriffen. Der Vatikan befürchtet offensichtlich, dass die Kirche in Deutschland – vorbei am Kirchenrecht – eine Nationalsynode abzuhalten gedenke. Kardinal Marx hat diese, vermutlich von konservativen deutschen Bischöfen in Rom forcierte, Lesart umgehend zurückgewiesen. Der „synodale Weg“ sei keine Synode und daher auch nicht im Kirchenrecht einzuordnen. Am Ende des Prozesses sei kein Bischof an die im Prozess gefassten Beschlüsse gebunden.
Was kann bei dieser Gemengelage also realistischer Weise tatsächlich herauskommen? Es darf wohl angenommen werden, dass am Ende ein Papier steht, welches eine eindeutige Positionierung der Kirche in Deutschland, auch zu weltkirchlichen Fragen (wie Zölibat und Frauenordination) enthält. Diese „deutsche Position“ wird allerdings keinen Rechtscharakter tragen, sondern dem Papst und der Weltkirche zur weiteren Diskussion und Bewertung vorgelegt werden. Sofern es sich um innere Fragen von Organisation und Pastoral handelt, könnte so etwas wie eine „Selbstverpflichtung“ der Bischofskonferenz herauskommen, an welche sich die Minoritätsbischöfe dann nicht zu halten brauchen.
Ob ein solch erwartbares Ergebnis ausreichen kann, um verlorenes Vertrauen an der Basis und in der Gesellschaft zurückzugewinnen und Dynamik für einen kirchlichen Neuaufbruch zu ermöglichen bleibt abzuwarten.
Beten wir daher für die Einheit der Kirche und deren stete Erneuerung:
Komm, Heiliger Geist, erfülle die Herzen deiner Gläubigen und entzünde in ihnen das Feuer deiner Liebe. Sende aus deinen Geist, und alles wird neu geschaffen.
Und du wirst das Angesicht der Erde erneuern.
Gott, du hast die Herzen deiner Gläubigen durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes gelehrt. Gib, dass wir in diesem Geist erkennen, was recht ist, und allzeit seinen Trost und seine Hilfe erfahren. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn. Amen.
Von der Glaubwürdigkeit der Kirche
Armut als geistliche Grundhaltung allen christlichen Dienstes
von Gerhard Seidler
Armut ist etwas Furchtbares! Wo Menschen im Elend stecken, gehören sie herausgeholt, aus der Sklaverei von Not der Armut befreit, sei es durch den politischen Sozialstaat, sei es durch die kirchliche Diakonie und Caritas. Es gehört zum christlichen Menschenbild anderen aus der Not herauszuhelfen, ihnen Wege aufzuzeigen sich selbst zu helfen, Solidarität anzunehmen und mit anderen solidarisch zu sein. Die besten Initiativen gegen die Not der Armut bestehen in Bildung und der Schaffung von Eigentum. Nicht jede Not ist selbstverschuldet. Wie viele Kinder wachsen auf, ohne dass sie ihre Eltern je einer geregelten Arbeit nachgehen gesehen hätten? Man spricht in solchen Fällen eher abfällig von „Harz IV Dynastien“. Doch wie schnell zerbricht auch die scheinbar so stabile bürgerliche Existenz durch Krankheit, Unfall, Tod oder Scheidung? Was soll der fünfzigjährige Familienvater tun, wenn sein Betrieb schließt und der erlernte Beruf nicht mehr gebraucht wird? Und auch wer sich stets wacker durchs Leben geschlagen hat, kann aufgrund geringer Altersbezüge auf einmal zu den Armen zählen.
Zu einer romantischen Armutsverklärung besteht kein Grund, sie ist etwas Furchtbares, was es immer und überall zu überwinden gilt.
Wer sich jedoch etwas mit der Sprache der Kirche beschäftigt, kann über einen merkwürdigen Gegensatz stolpern. In der Sprache der Kirche taucht Armut durchaus auch als positiver Begriff auf. Wie das?
Die kirchliche Soziallehre erklärt der materiellen, der sozialen, der menschlichen Armut den Kampf. Wer Christ sein will, muss bereit sein stets an der Seite der Armen gegen jegliche Strukturen bösen Elends zu stehen. Diese Haltung hat die Kirche, weil sie von Anfang an Gott selbst so erlebt.
„ER entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und uns Menschen gleich“ (vgl. Phil 2,7).
Gott ist der mit den Menschen solidarische, der einer von ihnen wird, der sich seiner Göttlichkeit entäußert und buchstäblich arm wird. Er, der keine Herberge hat, legt sich auf der Durchreise in die Not der Krippe und lässt sich schließlich an das elendige Holz des Kreuzes schlagen.
Gibt es eine treffendere Umschreibung für das, was hier ausgesagt und in unsere heutige Zeit hineinübersetzt werden soll? Das ist Liebe in Vollendung!
Diese Hinwendung Gottes zu jedem, der in Not ist und nach Erlösung schreit ist der Maßstab allen kirchlichen Handelns und jeden Dienstes in der Kirche. Es ist das Gütesiegel Gottes, stets aktuell für jeden, der sich Christ und damit auch Mitarbeiter Gottes nennt.
Voll von Liebe für die Armen, Entrechteten, für die am Rand der Gesellschaft Stehenden sind die Texte des Benedictus und des Magnificats im Evangelium geschrieben. Gott selbst ist es, der dem Menschen nachgeht, ihn umwirbt und begleitet, damit dieser anfängt wieder wahrhaft Mensch im Angesicht Gottes zu werden. Diese Haltung des Evangeliums wird in der Sprache der Spiritualität als „Evangelische Räte“ bezeichnet. Es sind die Armut, der Gehorsam und die Keuschheit. Diese Begriffe beschreiben die Grundhaltung jeden kirchlichen Engagements. Wie alle Begriffe des kirchlichen Vokabulars wurden sie im Laufe der Jahrhunderte immer wieder auch missverstanden oder sogar missbraucht. Im Prinzip beschreiben sie, dass alle Glieder der Kirche so leben und arbeiten sollten, wie Jesus selbst. Damit Jesus in den Strukturen, Personen und Diensten der Kirche stets wiedererkannt werden kann, braucht es dieser jesuanischen geistigen Grundhaltung.
In diesem Beitrag geht es vor allem um die geistige Haltung der Armut, über Gehorsam und Keuschheit würde es sich lohnen zu anderer Zeit weiter nachzusinnen.
1) Unser Besitzstreben soll durch eine dynamisch geistige Ausrichtung immer mehr vom „Haben-wollen“ zum „Sein-wollen“ gewandelt werden, aus dem dann eine tiefe Freude am Sein und die Kraft zum Teilen erwächst. Hier tut sich ein Spannungsbogen auf zwischen den Dimensionen der Wesensarmut und der Sacharmut. Sich bewusst werden, dass wir vom Schöpfer abhängig und auf ihn hin verwiesen sind und die Bereitschaft dieses Verwiesen sein und diese Abhängigkeit anzunehmen und gestalten zu lernen, sind die Kriterien der Wesensarmut. Gott kann mich nur in dem Maße durch seinen Heiligen Geist beschenken, wie ich mich ihm arm und leer zur Verfügung stelle. Christliche Anthropologie (Menschensicht) beruht dabei immer auf meiner Gottesebenbildlichkeit. So kann durch mich Gott Mensch werden, auf dass ich vergöttlicht werde. Wichtiger Teilaspekt dabei ist die „Armut in den Beziehungen“. Meine „Verhaltensmuster“ und mein „Rollenverhalten“ stehen dabei auf dem, auf „seinem“ und meinem Prüfstand. Ich lerne in dieser Sichtweise meines Seins auf gemachte“ Stärke zu verzichten. Ich lerne Unechtes und Masken zu erkennen, abzulegen und hinter der Maske ungeschminkt die unverwechselbare Person zusehen: Dich und mich. So ist und wird es mir möglich, mich ungeschützt zu zeigen. Nur in dieser Atmosphäre kann Nähe, Wärme und Zärtlichkeit aufbrechen, in der ich die Anwesenheit Gottes im je anderen wahrzunehmen und zu erleben vermag.
2) Wesensarmut und Armut in den Beziehungen zeigen ihre Werthaftigkeit in der Konfrontation mit der „materiellen Armut“. So oder so: Meine Beziehung zu Gott, zum Mitmenschen, zur Schöpfung und zu mir selbst prägen meinen Lebensstil und fordern im- und explizit meinen kritischen und verantwortungsvollen Umgang mit den Gütern, auf die ich und meine Mit- und Umwelt angewiesen sind und die ich und wir andererseits erwirtschaften.
3) In diesen Zusammenhang gehört auch der Umgang mit, drücken wir es so aus ,„materiellem Mehrertrag“. Es geht um die soziale Dimension und Verpflichtung des monitären Gewinns. Für Christenmenschen sind dabei eine gesunde Gelassenheit und der verantwortungsvolle Umgang mit den gegebenen „Talenten“ und dem durch diese zu erzielendem „Mehr“ normativ. Ich bin es, der gibt und der nimmt. Ich stehe im Spannungsfeld von Haben und Sein. Durch mein Handeln soll meine Gottesebenbildlichkeit sichtbar werden. Dabei „erscheint“ es mir wichtig, dass ich mir selbst etwas gönnen kann, dass ich mich selbst wertschätze als „Tempel des Heiligen Geistes“. In solchem Sein und Dasein hat Geiz aber auch Selbstverleugnung keinen Platz. Mein Licht steht nicht unter einem Scheffel, für wen oder was sollte es dort leuchten?
4) In der „Frohbotschaft nach Johannes“ 17,22 hören wir Jesus, den Christus sagen: „Ich habe die Herrlichkeit, die du mir gabst, ihnen gegeben, damit sie eins seien, wie wir eins sind“. Im Licht dieser Zusage erkenne ich meine eigenen Grenzen der Liebes- und Beziehungsfähigkeit und mir wird klar, dass ich den „Stückwerks-Charakter“ meines Tuns annehmen darf. Ich muss nicht.
5) Erfolg ist ein Geschenk für das ich dankbar sein kann. Zwang zum Erfolg jedoch kann zum „Tanz ums goldene Kalb“ werden. Dabei spricht nicht der „brennende Dornbusch“ zu mir, es herrscht „eisige Stille“ und doch verbrenne ich und bin draußen („burn out“).
6) Erst im Spiegel der geschilderten trinitarischen Armut, im Einklang von Wesens-, Beziehungs- und materieller Armut wird echte Partnerschaft möglich. In ihr weiß ich mich mit meinem So-Sein, mit meinen Fähigkeiten und Talenten, mit meinen Defiziten, Mängeln und Grenzen angenommen. In ihr lebe ich und durch sie trägt mein ganzes Dasein dazu bei, Gott, meinen Schöpfer, zu verherrlichen. Festzuhalten ist schon jetzt: Armut an sich ist nicht von selbst schon etwas Gutes. Und Reichtum auch nicht. „Die Hauptsache ist, dass du dich frei entscheidest, wie du lebst. Und dass du niemandem dabei schadest. Eigentlich ist es ganz einfach. Dazu eine Faustregel (frei nach Kant): behandle die anderen Menschen immer gut und dich genauso, so wie die ganze Um- und Mitwelt.“
Befund im Ersten Testament: Der Exodus war ein göttliches Befreiungshandeln zugunsten von Armen und Unterdrückten. „Die Ägypter aber behandelten uns schlecht und unterdrückten uns und auferlegten uns harte Arbeit. Da schrien wir zum HERRN, dem Gott unserer Vorfahren, und der HERR hörte unser Schreien und sah unsere Unterdrückung, unsere Mühsal und unsere Bedrängnis. Und der HERR führte uns heraus aus Ägypten mit starker Hand und ausgestrecktem Arm, mit großen und furchterregenden Taten, mit Zeichen und Wundern“ (Dtn 26,6-8).
Jahwe wendet sich einer in besondere Not geratenen Gruppe aus den unteren Bevölkerungsschichten zu, um sie aus einer ihr aufgezwungenen Elendssituation herauszuführen. Zum Auszug aus Ägypten gehört notwendig die Hineinführung in das „Land,
wo Milch und Honig fließen" - ein Bild paradiesischer Fülle. In diese Fülle können die Armen aus Ägypten hineingebracht werden, weil in ihrer Mitte ER, Gott, wohnt. Diese Perspektive wird von den Propheten weitergeführt. Sie sind Verteidiger der Armen, Schwachen und Enterbten. Sie üben an den bestehenden Verhältnissen Kritik, weil Unrecht mit Hilfe des Besitzes geschieht. Diese Kritik zielt darauf, den Reichen bewusst zu machen, dass sie Verantwortung haben. Es geht um eine Gesellschaftsordnung, in der Menschen als Menschen akzeptiert und nicht wie Sachen behandelt werden. Dem Alten Testament ist klar, dass es immer Armut geben wird, auch wenn es eigentlich keine Armen geben sollte. Dazu findet sich im Zweiten, dem Neuen Testament:
Zur Zeit Jesu betraf die Armut einen großen Teil der Bevölkerung (Handwerker, Händler, Bauern, Tagelöhner, Fischer, Hirten, Witwen, Waise, Prostituierte, Bettler); erschwerend kamen hohe Abgaben und Steuern an die römische Besatzungsmacht dazu. In Jesus erfüllt sich die Ankündigung des „Evangeliums“, wie sie der Prophet Jesaja gemacht hat: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen das Evangelium zu verkündigen. Er hat mich gesandt, Gefangenen Freiheit und Blinden das Augenlicht zu verkündigen, Geknechtete in die Freiheit zu entlassen, zu verkünden ein Gnadenjahr des Herrn“ (Lk 4,18). In seinem Dasein und Tun wendet er sich insbesondere den Menschen zu, die zur Unterschicht zählen. In der Bergpredigt kündigt Jesus vor allem den Armen und Schwachen das Reich Gottes an („Selig die arm sind, die hungern, ...). Er verkündet auch jenen das Heil, die sich den Armen helfend zuwenden, die Barmherzigen werden reichen Lohn empfangen. Jesus ruft auch zum Almosengeben (Mt 6,1-4) auf. In der Weltgerichtsrede (Mt 25,31-46) wird die Wichtigkeit der Zuwendung zu den Armen und Schwachen betont. „Was diesen „Geringsten" an Gutem getan habt, das habt ihr mir getan. Die Zuwendung gilt auch hilfsbedürftigen Kindern (Mt 18,5), den Kranken, die durchansteckende Krankheiten vom sozialen Leben ausgeschlossen sind oder den Bettlern, wie beispielsweise dem armen Lazarus. Dieses Gleichnis zeigt auch die Umwertung gängiger Werte durch das Reich Gottes; dabei ist zu beachten, dass nicht der Reichtum an sich ins Verderben führt, sondern die gleichzeitige Missachtung des Armen und die Verweigerung von Barmherzigkeit ihm gegenüber. Dass die Botschaft vom Reich Gottes sich an die Armen richtet, zeigt der Evangelist Lukas in seiner Kindheitsgeschichte: Jesu Geburt findet im Milieu sozialer Armut statt. Der Lobgesang Marias (Magnificat Lk 1,46-56) bringt das Wollen und Handeln Gottes direkt zum Ausdruck: die jetzt gering geschätzt werden und als schwach, arm und ohne jeden Einfluss gelten, werden durch Gott die Umkehrung ihrer Situation erfahren; Niedrige werden erhöht und Hungernde und Bedürftige beschenkt.
In den frühen christlichen Gemeinden wurde die Sorge um die Armen sehr ernst genommen; die Nachfolge Jesu und der Glaube an Christus sollte sich in Werken niederschlagen. „Hört, meine geliebten Brüder und Schwestern: Hat Gott nicht die erwählt, die in den Augen der Welt arm sind, und sie zu Reichen im Glauben und zu Erben des Reiches gemacht, das er denen verheißen hat, die ihn lieben?“ (Jak 2,5). Im römischen Reich wurde durch das Christentum die Sorge um Arme, Alte und Kranke als besonders schutzbedürftige Menschen zu einer genuin religiösen Aufgabe. Die Armenhilfe hatte ihr Vorbild in Christus selbst, der als Adressat des Hilfsdienstes galt, (Mt 25: Ich war hungrig.....). Damit veränderte sich die Stellung der Armen. Vorher waren sie allein Empfänger von Gaben, jetzt waren sie auch Gebende; sie boten dem Reichen die Chance, sein Seelenheil durch materiellen Reichtum zu retten. Gleichzeitig wurde das Phänomen der Armut als gottgegebenes Schicksal betrachtet, es stellte alle Beteiligten vor eine moralische Prüfung. Ebenso wurde sie auch als unveränderliche Gegebenheit gesellschaftlicher Verhältnisse akzeptiert. Im Verlauf der weiteren Geschichte kamen im Umgang mit den Armen Haltungen zum Ausdruck, die zwischen Ausschluss oder Teilhabe, Wertschätzung und Respekt oder Verachtung, Unterstützung oder Vertreibung hin- und herpendelten. Die Werke der Barmherzigkeit, die aus der Weltgerichtsrede bei Mt 25,34-46 formuliert wurden, gaben den Rahmen für christliches Handeln; als Vorbilder kannte man die Heiligen, die diese Werke besonders lebten (Martin, Elisabeth). Die Werke der Barmherzigkeit: (leibliche Werke) Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen, Tote bestatten. Freiwillige Armut war für manche Christen der Verzicht auf materielles persönliches Eigentum, ein Ideal, sie folgten dem Rat Jesu, alles zu verlassen und ganz für das Reich Gottes da zu sein. Von den Eremiten der späten Antike bis zu den Bettelorden und freiwilligen Armutsgelübden in der Gegenwart entwickelte sich eine christliche Tradition, welche Armut zum Ideal erhob und den Armen, in Not Geratenen besondere Aufmerksamkeit schenkte. Solange es Menschen gibt, die in Armut leben, bleibt ein Überfluss auf der anderen Seite eine permanente Anfrage an eine Gesellschaft. Die zentrale, immer wieder neu zu thematisierende Frage lautet daher: Welche Spreizung zwischen Armut und Reichtum ist in einer Gesellschaft noch angemessen, die sich am Maßstab der gerechten Teilhabe ausrichten möchte?
Und Heute: Die Option für die Armen ist für Papst Franziskus "das entscheidende Kriterium" (Evangelii gaudium (EG),195) der Kirche, es ist der Ausweis ihrer apostolischen Authentizität. Vorrangig ist dabei die konkrete Begegnung mit den Menschen. „Wenn die Christen und die Kirche vor Ort sich in ihrem Leben nicht bewusst den Armen verpflichteten, hörten sie "ipso facto" auf, Christen und Kirche Jesu Christi zu sein. Sie würden sich in frontalen Widerspruch zu dem von Jesus verkündeten Evangelium des Reiches Gottes und seiner Person selbst begeben. Was im Zentrum des Lebens und der Mission Jesu Christi (vgl. Lk 7, 22 f.) stehe, müsse das Wesen und die Sendung der Kirche konstitutiv definieren. Die Kategorie Armut sei deshalb als "Nota Ecclesiae" zu werten: Weil die Kirche arm ist wie ihr Gründer, ist sie katholisch, apostolisch, eine und heilig.“ So sieht der brasilianische Theologe Francisco de Aquino Júnior (geb.1973) die Sachlage. "Eine arme Kirche klagt den ungerechten Mangel der Güter dieser Welt und die Sünde an, die ihn hervorbringt [...], predigt und lebt die geistige Armut als Haltung der geistigen Kindschaft und Öffnung zu Gott [...], und sie verpflichtet sich selbst zur materiellen Armut." (Erklärung von Medellin, 146) Diese Definition konkretisierte sich in der Selbstverpflichtung der lateinamerikanischen Kirche zu einem bescheidenen Wohn- und Lebensstil, "ohne Pomp und Prunksucht" und weit jenseits einer Vorstellung von einer „sexy“ Kirche. Armut darf nicht in zynischer Weise nur als "geistliche Armut" verstanden werden. Sie muss vielmehr wahre Solidarität sein.
Aus dem Glauben heraus habe die Kirche vor Ort sich der Frage zu stellen, wie viel Wohlstand, Macht und Geld sie sich leisten darf, ohne den Glauben zu verdunkeln. Ebenso aus dem Glauben heraus habe die Kirche prophetisch gegenüber systematischer Ungerechtigkeit zu handeln und sich als Kontrast- und Alternativgesellschaft zu zeigen. Wie wichtig die Armen für die Kirche sind, zeigt sich, wenn Papst Franziskus sie nicht nur als Subjekte der Mission betrachtet, sondern auch Träger der Offenbarung Gottes nennt (vgl. EG 198).
Bischof Klaus Mass hat auf der 1.Synode der Christ-Katholischen Kirche im November 2018 folgendes dazu gesagt:
"Armut als geistliche Haltung bedeutet für Bischof Erwin Kräutler (*12.7.1939; von 1981-2015 Bischof von Xingu, der flächenmäßig größten Diözese Brasiliens) zweierlei. Erstens die unbedingte Solidarität mit den Armen, den Entrechteten, den Vertriebenen, den Missbrauchten, den Ausgegrenzten, den Waisen, den Witwen, den Alten, den Kranken und den Armen im Geiste. Solidarität bedeutet Unrecht zu benennen und an dessen Überwindung zu arbeiten. Es geht ihm darum sich nicht nur theoretisch zur katholischen Soziallehre zu bekennen, sondern sich ganz konkret an die Seite der Armen zu stellen, wenn möglich mit ihnen zu leben. Das zweite, was Bischof Kräutler allerdings mit Armut bezeichnet, kann auch mit Freiheit umschrieben werden. Armut bedeutet für ihn nicht darben. Darben ist keine Tugend. Wo es am Nötigsten fehlt, muss für das Nötigste gesorgt werden und darüber hinaus. Armut heißt über das Notwendige zu verfügen und frei zu sein von Dingen, die eben nicht notwendig, sondern überflüssig sind. Auf diese Weise wird der Christ unabhängig und vor allen Formen der Korruption geschützt. Unabhängigkeit bedeutet nicht auf die täglichen Lebensgepflogenheiten und –gewohnheiten verzichten zu müssen, aber doch zu können. Zur Freiheit der Armut gehört auch den Neid zu verlieren. Solange wir uns mit dem anderen vergleichen, sein Einkommen, sein Vermögen, seinen Besitz beneiden, werden wir unglücklich, Sklaven unserer eigenen Wünsche. Kräutler rät dazu, sich wie Franz von Assisi von diesem Denken freizuspielen und zufrieden zu sein mit sich und seinem Leben. Ausdruck von Frieden und Freiheit ist nicht der Neid, sondern die Dankbarkeit. Im Geist der Armut ist nicht nur der Einzelne, ob nun reich oder arm, zu achten, sondern auch andere Völker, Kulturen und Lebensstile sind wertzuschätzen. Insbesondere gilt dies auch für die Welt, die Erde, die Schöpfung an sich. Haben sich Christen schon immer für die Bewahrung der Schöpfung ausgesprochen, so ist die Ökologie als theologisches Thema mit der Enzyklika „Laudato si“ von Papst Franziskus in der Mitte der Kirche angekommen. Christen dürfen die Erde nicht beherrschen oder verbrauchen, sie haben sie zu schützen, zupflegen und zu kultivieren."
Atme in mir, du Heiliger Geist, dass ich Heiliges denke.
Treibe mich, du Heiliger Geist, dass ich Heiliges tue.
Locke mich, du Heiliger Geist, dass ich Heiliges liebe.
Stärke mich, du Heiliger Geist, dass ich Heiliges hüte.
Hüte mich, du Heiliger Geist, dass ich das Heilige nimmer verliere.