042017



Die Erneuerung der Liturgie und das Alte Testament

An den Beispielen Pascha-Mysterium und Tora

Zur Konzilskonstitution »Sacrosanctum Concilium«

Von Prof. Dr. Georg Braulik OSB, Wien


Unser Konzilsgedenken steht unter dem Wort Karl Rahners, das er dem Österreichischen Katholikentag 1962 kurz vor der Eröffnung des Konzils zugerufen hat: »Löscht den Geist nicht aus!«  Ich verstehe diesen Appell heute Abend als Ermutigung, den Geist des Zweiten Vatikanums nicht nur in der Auslegung der Dokumente wirken zu lassen, sondern auch in Neuem, zu dem sie inspirieren. Wie eine solch kreative »Fortschreibung« geschehen könnte, möchte ich auf einem ziemlich begrenzten Gebiet und nur beispielhaft an der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium verdeutlichen. Ich lese sie dazu vor dem Horizont des Alten Testaments und frage, welche Impulse sie für eine liturgische Erneuerung geben könnte, wenn moderne Entwicklungen der alttestamentlichen Exegese berücksichtigt werden. Was also aus bibeltheologischer und hermeneutischer Sicht nach 50 Jahren zu ergänzen und zu verbessern wäre.  Ich spreche bewusst vom Alten Testament als Teil unserer christlichen Bibel und nicht vom TaNaK, der Hebräischen Bibel des Judentums. Denn unser Altes Testament enthält auch einige jüdische Schriften, die nicht in den TaNaK aufgenommen worden sind.  Außerdem klammere ich Impulse der jüdischen Liturgie aus , obwohl unser Gottesdienst von den »Konsequenzen der wiederentdeckten jüdisch-christlichen Gemeinsamkeiten«  befruchtet werden könnte. Es geht mir nur um einen kleinen Beitrag zum Dialog zwischen Altem Testament und liturgischer Erneuerung, wie er seit dem Konzil im deutschsprachigen Raum auf verschiedenen Ebenen geführt wird. Konkret stelle ich meinen Vortrag unter zwei Worte: erstens das »Pascha-Mysterium«, das »Herzwort«  und Reformprinzip der Liturgiekonstitution des Konzils, und zweitens die Tora, das Gesetz Moses.


1. Kein Pascha-Mysterium ohne die Erlösung Israels!

Trotz 50 Jahre Auslegungsgeschichte ist das, was das Zweite Vatikanische Konzil mit der »theologischen Schlüsselkategorie« Pascha-Mysterium meint, bis heute nicht ausdiskutiert.  Kardinal Josef Ratzinger meinte in seinem Vortrag anlässlich »40 Jahre Liturgiekonstitution« sogar:


Mir scheint, dass die meisten Probleme in der konkreten Ausführung der Liturgiereform damit zusammenhängen, dass der Ansatz des Konzils beim Pascha nicht genügend gegenwärtig gehalten wurde; man hat sich allzu sehr ans bloß Praktische gehalten und geriet damit in Gefahr, die Mitte aus dem Blick zu verlieren. Es scheint mir daher wesentlich, diesen Ansatz als Richtmaß von Erneuerung wieder aufzugreifen und das vom Konzil notwendigerweise nur Angedeutete weiter zu vertiefen.


Ich kann weder die Entwicklung des Begriffs in der Mysterientheologie Odo Casels und in der französischen Liturgiewissenschaft skizzieren noch seine Rezeption nach der Veröffentlichung der Liturgiekonstitution nachzeichnen. Das hat zuletzt Simon A. Schrott in seiner Studie »Pascha-Mysterium. Zum liturgietheologischen Leitbegriff des Zweiten Vatikanischen Konzils«  auf hervorragende Weise geleistet. Erwähnen möchte ich nur: Cipriano Vagaggini brachte den damals noch unterschiedlich verstandenen Ausdruck mysterium paschale in eine Neufassung des ersten Kapitels von Sacrosanctum Concilium (SC) ein. Damit war eine folgenschwere hermeneutische Entscheidung gefallen. So heißt es jetzt zu Beginn des Abschnitts über »Das Wesen der heiligen Liturgie«:


Dieses Werk der menschlichen Erlösung und der vollkommenen Verherrlichung Gottes aber, dessen Vorspiel die göttlichen Großtaten am Volk des Alten Bundes waren, hat Christus, der Herr, erfüllt, besonders durch das österliche Geheimnis [paschale mysterium] seines seligen Leidens, seiner Auferstehung von den Toten und seiner glorreichen Himmelfahrt … (SC 5,2)

Das ist keine Definition des Pascha-Mysteriums.  Auch die Aufzählung von »Leiden, Auferstehung und Himmelfahrt«, die den sogenannten Römischen Messkanon zitiert und die an anderer Stelle (SC 61) leicht variiert wird, entspricht nicht den Erfordernissen einer Definition. Dennoch lässt der Text den theologischen Gehalt des Pascha-Mysteriums erschließen. Zunächst verortet er dieses »Programmwort« geschichtlich. Der größere Kontext des Konzilsdokuments reiht es sogar in einen heilsgeschichtlichen Bogen ein, der mit den Propheten Israels beginnt, das ganze irdische Leben und Wirken Christi in der Fülle der Zeit überspannt und bis zur Kirche reicht, die sich versammelt, »um das österliche Geheimnis zu feiern«[ad paschale mysterium celebrandum] (SC 5-6, Zitat SC 6). Trotz dieser großflächigen Einordnung darf der Begriff nicht um das ihm Spezifische gebracht werden. Er meint nicht, was Odo Casel und die Liturgiekonstitution öfters (SC 2; 16; 35,3; 102,2) einfach das »Christusmysterium« nennen, sondern bezieht sich auf »einen ganz bestimmten Handlungskomplex der Hingabe und Erhöhung Christi, ohne die übrigen Taten Christi einzuschließen, von denen die Schrift spricht« . Pascha-Mysterium bezeichnet auch nicht das Osterfest bzw. das Triduum sacrum (obwohl SC 107 und 109,1 dies nahelegen – aber sie sind im Kontext des Gesamtdokuments zu lesen). Und schließlich darf das Pascha-Mysterium nicht mit der Liturgie selbst identifiziert werden. Denn es steht für das, woraus die liturgische Gedächtnisfeier ihre Wirkkraft bezieht – nämlich die durch Tod und Auferstehung Christi ermöglichte Befreiung aus dem Machtbereich des Bösen und des Todes sowie die Hinüberführung in das Reich des Vaters (SC 6).  Durch diesen Begriffsinhalt von Pascha-Mysterium wurde das bisher maßgebliche Konzept von Erlösung aus seiner Engführung auf den stellvertretenden Kreuzestod Christi als Sühneopfer menschlicher Schuld bibeltheologisch geöffnet und zu einer dynamischen Einheit vor allem mit der Auferstehung verbunden. 


Ich schlage deshalb die folgende verdeutlichende Sprachregelung vor: Man sollte, wo es um das Pascha-Mysterium im Sinn der Liturgiekonstitution geht, vom »Pascha Christi« oder paschale Christi mysterium sprechen. In der Tat werden beide Ausdrücke in der liturgiewissenschaftlichen Literatur bereits wechselweise für Pascha-Mysterium verwendet.  Dieser Sprachgebrauch zeigt, dass Angelus Häußling den Ausdruck zu sehr verallgemeinert hat, wenn er feststellt: »Mit ›Pascha-Mysterium‹ hat das Zweite Vatikanische Konzil so etwas wie eine ›Kurzformel‹ der Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte des Heils […] geprägt.«  So wünschenswert dieser heilsgeschichtlich umfassende Begriffsinhalt aus biblischer Sicht wäre  – er entspricht nicht dem von der Konstitution gemeinten. Doch macht uns die zu breite Umschreibung des Pascha-Mysteriums als »Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte des Heils« auf ein theologisches Defizit der Liturgiekonstitution aufmerksam. Ich denke dabei nicht an den diskutablen, jedoch etablierten Begriff »Heilsgeschichte«, der zur Zeit des Zweiten Vatikanums Hochkonjunktur hatte. Problematisch erscheint mir vielmehr die Spannweite des Begriffs Pascha-Mysterium, die vom Konzil auf »Christi Lebenshingabe im Tod und Durchgang durch den Tod zum Leben beim Vater« beschränkt wird. So vermessen es klingen mag – ist das Christusereignis wirklich alles, was vom geschichtlichen Heilshandeln Gottes im Pascha-Mysterium vergegenwärtigt und liturgisch vermittelt wird, sodass die Feiernden daran teilhaben können? Schon das Wort »Pascha« verweist doch auf das Alte Testament und auf das Gedächtnis der grundlegenden Heilstat Gottes am biblischen Israel. Meine Kritik setzt deshalb im Folgenden an der Begrenzung des »Pascha-Aspekts« auf die Erlösung Christi durch Kreuz und Auferstehung an, welche die »göttlichen Großtaten am Volk des Alten Bundes« nicht einbezieht.  Dazu nun im Einzelnen.


Problematisch erscheint erstens, dass die zitierte Passage der Liturgiekonstitution bei diesen Taten Gottes an Israel von einem »Vorspiel« [praeluserant] spricht, das »Christus, der Herr, erfüllt hat, besonders durch das Pascha-Mysterium« (SC 5,2). Diese Periodisierung der Geschichte, die das Heilswerk Gottes im Alten Testament vorgebildet und in Christus erfüllt sieht, folgt dem zur Konzilszeit gängigen Verheißungs-Erfüllungs-Muster und einer Überbietungstypologie, die bis heute unsere Liturgie prägen.  Beides bedarf einer kurzen kritischen Erklärung. Erfüllung  suggeriert prophetische Voraussagen. Dabei kann natürlich eine Erfüllung der Tora, wie sie vor allem Matthäus und Lukas wiederholt feststellen, nicht in den Blick kommen. Das neutestamentlich griechische Verb pleróo, gewöhnlich mit »erfüllen« übersetzt, lässt sich sachlich am besten mit »bestätigen, bekräftigen, als wahr unterstreichen, … voll entsprechen« wiedergeben. Erfüllungsaussagen sind also im Sinn einer »Bestätigung der Schrift« zu verstehen. Was die Typologie angeht, so bilden im Konzilstext die Großtaten Gottes [divina magnalia] an Israel und unter ihnen vor allem das alttestamentliche Pascha den Typos, das »Vorausbild«, für das Pascha Christi, seinen Antitypos, das »Gegenbild«.  Bibeltheologisch präzisiert: Der sachliche Ansatzpunkt der Typologie ist weniger das Pascha vor dem Auszug Israels aus Ägypten, sondern wie schon bei den Kirchenvätern  das doppelte Rettungsgeschehen, das im Pascha vorweggenommen gefeiert wird (vgl. Weish 18,9) – nämlich der Vorübergang des Verderbers an den mit dem Blut des Pascha-Lammes kenntlich gemachten Häusern der Hebräer (Ex 12) und dann der Zug des Volkes durch das Rote Meer (Ex 14). Vor allem dieser Heilsweg der Befreiung aus der Knechtschaft und des »Hinübergangs«, transitus, vom Tod zum Leben beim Durchzug, liefert das typologische Material des Pascha-Mysteriums Christi.  Nach Irmgard Pahl setzt diese Deutung eine »formale Parallelität oder Strukturgleichheit der alttestamentlichen und der neutestamentlichen Heilsökonomie« voraus.  Kritisch anzumerken ist ferner: Bibelwissenschaftlich lässt sich eine Pascha-Typologie angesichts der Breite und Verschiedenheit der alttestamentlichen Pascha-Tradition nur sehr begrenzt vertreten. Am ehesten findet man sie, wenn auch subtil, in der erzählenden Typologie des Johannesevangeliums, die das Geschick Jesu in ihrem Licht deutet.  Von den einzelnen Texten abgesehen wird heute eine typologische Hermeneutik grundsätzlich als fragwürdig empfunden, weil sie den Eigenwert des Alten Bundes nicht ernst nimmt.  Dieser Eigenwert wird allerdings gewöhnlich auf die Erkenntnis beschränkt, wonach »man das Neue Testament schlechterdings nicht verstehen kann ohne das Alte« und daher »auch die christliche Liturgie nicht ohne den Weg, auf dem sie gewachsen ist«.  Aber selbst eine Typologie, die das alttestamentliche Vorbild nicht abwertet  und den »erkenntnisfördernden Wert der älteren Überlieferung« für das Neue ergründet , greift wesentlich zu kurz. Entscheidend ist nämlich der eigene Heilswert der im Alten Testament berichteten »Großtaten Gottes«.


Deshalb lautet jetzt zweitens die entscheidende Frage, die in den Kommentaren zu Sacrosanctum Concilium bisher noch nicht gestellt wurde: Hatten die »Großtaten Gottes« in der Geschichte Israels, wenn sie – wie die Liturgiekonstitution sagt – nur ein »Vorspiel« des »Werks der menschlichen Erlösung und der vollkommenen Verherrlichung Gottes« waren, denn keine soteriologische Funktion? Anders formuliert: Gibt es schon im Gottesvolk des Alten Bundes Erlösung oder war das alttestamentliche Israel bloß Empfänger von Verheißungen im Sinn von verbalen oder vorbildhaften Ankündigungen, die sich erst später in Jesus Christus erfüllten? Ich versuche eine Antwort im Anschluss an das Buch von Gerhard Lohfink und Ludwig Weimer »Maria – nicht ohne Israel« . Denn bei der Erwählung Marias als Tochter Zions stellt sich das Problem auf ähnliche Weise wie beim Pascha-Mysterium.


Nach der Bibel gibt es trotz der durch die Sünde verursachten Zerstörung der Schöpfung, der Entmenschlichung der Gesellschaft und der Schuldverflochtenheit auch Israels eine einzigartige Geschichte der Gottverbundenheit des alttestamentlichen Gottesvolkes. Eigentlich beginnt sie schon vor Abraham. Denn Gott blickte mit Wohlgefallen auf das Opfer Abels (Gen 4,4) und der untadelige Henoch wie der gerechte Noach gingen »ihren Weg mit Gott« (Gen 5,24; 6,9). Die frühchristlichen Theologen haben angesichts dieser »heiligen Heiden«  von der »Kirche seit Abel«, ecclesia ab Abel, gesprochen.  Auch was auf sie folgte, »waren nicht nur Worte, die Zukünftiges verhießen. Es waren Wirklichkeiten, die Unheilszusammenhänge durchbrachen und Geschichte veränderten.«  Um einige dieser Realitäten zu nennen: Der Glaube Abrahams wurde in Israel gelebt. In die Befreiungserfahrung, die zunächst nur wenige im Auszug aus Ägypten gemacht haben, sind später viele in Israel eingetreten. Die Freude an der Tora und der Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes waren trotz Versagens und Abfalls eine gesellschaftliche Realität. Ebenso die Vergebung der Sünden am Versöhnungstag, die Konfrontation mit dem Gotteswort der Propheten und die Weisheit, die Menschen zur Furcht Gottes erzog. Will man das Verhältnis des Alten zum Neuen Testament mit dem Schema »Verheißung – Erfüllung« bestimmen, dann – um einen Vergleich zu gebrauchen – nur im Sinn »einer Liebe zwischen zwei Menschen, die voll Verheißung ist, einer Liebe, die so groß ist, dass die beiden Menschen sie als etwas Neues und Einmaliges erfahren, die aber noch nicht vollendet ist, weil ihre letzte Bewährung noch aussteht: die Treue bis in den Tod.«  Wenden wir dieses Bild auf das Verhältnis der Gnadenökonomie des Alten Bundes zur allumfassenden und einzigartigen Erlösungstat Jesu Christi an, so heißt das:


Das Neue Testament sagt, dass erst in der Botschaft und Praxis Jesu, ja sogar erst in seiner gekreuzigten Liebe die lange Geschichte des alttestamentlichen Israel ihre Erfüllung und letzte Eindeutigkeit gefunden hat. Aber seine Treue bis zum Tod am Kreuz wäre nie möglich geworden ohne den Glauben Abrahams, ohne das Unterscheidungswissen der Tora und den Mut der Propheten. … Ist in Jesus die Erfüllung aller Verheißungen angebrochen? Ja! Aber die Erfüllung von Verheißungen, die schon lange als Realität unterwegs waren.


Was ich von der Bibel her gesagt habe, wird auch von den Kirchenvätern und Theologen des Mittelalters reflektiert. Sie haben die Realität der Erlösung, beginnend mit der Erschaffung der Welt und später konkretisiert in den »Sakramenten des Alten Testaments« , ausführlich diskutiert. Übereinstimmend stellen sie fest, dass sich im Verlauf der Geschichte zwar die Symbolik der verschiedenen Heilszeichen ändert und zunehmend deutlicher wird, sich zum Beispiel von der Beschneidung zur Wassertaufe, vom Manna zur Eucharistie entwickelt, dass ihre Wirkung aber stets dieselbe ist, nämlich die Rechtfertigung, die Erlösung. So sagt zum Beispiel Augustinus : »Sakramente waren jene Dinge [etwa das Manna]; in den Zeichen waren sie verschieden [nämlich von unseren Sakramenten], in der Sache, die angedeutet wird, sind sie gleich.« Hugo von St. Viktor, der im 12. Jahrhundert die patristische Sakramentenlehre zusammenfasst, betont den objektiven Heilscharakter, den auch die Sakramente der früheren Gnadenordnungen trotz ihres Verweischarakters auf die neutestamentlichen Sakramente besitzen.  Diese Gleichheit der Gnade in den Heilsordnungen des Alten und des Neuen Bundes beschreibt im Blick auf das Pascha zum Beispiel Cyrill von Alexandrien folgendermaßen:


Wenn es im Text [Ex 12] heißt, dass die Hauseingänge gesalbt werden mussten, bzw. die Oberschwellen und Türpfosten, so besagt dies, dass Besprengung mit Blut die Gesalbten rettet. Denn das Mysterium Christi wehrt dem Tode und versagt ihm den Zugang. Darum werden auch wir, die mit dem kostbaren Blute gesalbt sind, stärker sein als der Tod und der Verwesung trotzen.


Was also das Blut des Paschalammes für die Juden – und zwar als »Mysterium Christi« – bewirkte, das vollbringt die Taufe für Christen: »Denn die Wirkkraft der verschiedenen Sakramente konnte sich nicht verringern.«


Zu erwähnen ist noch, dass Notker Füglister zeitgleich zu Liturgiekonstitution, aber ohne erkennbare Querverbindungen zu ihr, in seinem Buch »Die Heilsbedeutung des Pascha«  aus dem Alten Testament eine umfassende »Pascha-Exodus-Soteriologie« erarbeitete, also eine Erlösungslehre aus der Paschafeier und dem Auszug Israels. Ihr zufolge wurden diese Ereignisse bereits inneralttestamentlich zu Typen eines noch größeren zukünftigen Heilsgeschehens, zu einer »Pascha-Exodus-Eschatologie« . Sie habe zu einer neutestamentlichen »soteriologia paschalis«, also einer christlichen Erlösungslehre aus dem Pascha, geführt. Im Judentum ist das Pascha überhaupt »zum Kompendium und zur Rekapitulation der ganzen Heilsgeschichte geworden«.


Nach der Grundüberzeugung christlicher Pascha-Typologie ist also »im Pascha Christi die Verheißung des Pascha Israels zu ihrer soteriologischen Erfüllung gelangt«.  Das heißt bibeltheologisch: Jesus Christus vollendet, was Gott schon zuvor am Gottesvolk des Alten Bundes an Erlösung gewirkt hat. Sie darf nicht durch eine Abwertungstypologie zum bloßen »Vorspiel« einer eigentlichen Erlösung werden.


Ich plädiere deshalb für eine über die Liturgiekonstitution hinausgehende Begriffsfüllung, die im Pascha-Mysterium nicht nur das Pascha Christi, sondern ausdrücklich auch die Pascha-Tradition Israels einschließt. Sie sollte im Mysterium liturgisch mitvergegenwärtigt werden. Denn mit dem Pascha Israels wird das Gründungsereignis der gesamten Heilsökonomie Gottes gefeiert. Die alt- wie neutestamentliche Kirche verdankt ihm ihre Existenz und lebt aus seiner heilschaffenden Wirkung. 


2. Wider die Tora-Vergessenheit


Die Tora, das heißt jetzt nicht allein die mosaischen Gesetze, sondern der ganze Pentateuch, ist mit dem Pascha-Mysterium eng verbunden. Denn die Tora ist eine Pascha-Geschichte.  In den vierzig Jahren vom Exodus aus Ägypten bis zum Betreten des Verheißungslandes wird dreimal von einem Pascha berichtet. Die Thematik dieser drei Feiern bildet zusammen die eine Pascha-Geschichte, wie sie später auch die jüdische Pesach-Haggada erzählt. Denn jedes Pascha markiert eine der drei entscheidenden Etappen der Gründungsgeschichte Israels: in Exodus 12 den Auszug aus Ägypten, in Numeri 9 den Sinai-Aufenthalt und in Josua 5 den Einzug in Kanaan. Für den gesellschaftlichen Aspekt des Pascha ist wichtig, dass jede der drei Feiern auf eine Gesetzgebung bezogen ist. Die Tora ist ja nicht nur Gründungsmythos, sondern auch Darstellung der Sozialordnung, die Gott seinem Volk nach der Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens geschenkt hat. Sie ist »die konkrete Gestalt des Heils, seine Materialisierung, sein Einsinken in die Wirklichkeitsdichte von Gesellschaft, mit allem, was das heißt.«  Um die Tora in diesem umfassenden Sinn also geht es im Folgenden.


Am 10. Dezember 2015 hat die Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum anlässlich des 50. Jahrestages der Erklärung Nostra aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils ein Dokument veröffentlicht. Es trägt den programmatischen Titel »›Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt (Röm 11,29)‹. Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehun¬gen« . Die Überlegungen der Kommission gehen bewusst über die Konzilserklärung hinaus und sie sprechen ausdrücklich von der Tora. Das Papier bringt meines Erachtens einen echten Fortschritt für den christlich-jüdischen Dialog. Ich zitiere daraus nur einige Sätze, allerdings um zu zeigen, dass das Verständnis und die Annahme der Tora für unsere Kirche nach wie vor ein theologisch – und wie sich zeigen wird: auch liturgisch – unbewältigtes Problem darstellt.  Da heißt es zwar: »Die Tora ist Weisung zu einem gelungenen Leben im rechten Gottesverhältnis« (24). Doch bleibt diese Charakterisierung ohne biblische Stellenangabe  – angesichts der vielen Schriftbelege des Dokuments wohl ein beredtes Schweigen. Und weiter im Text: »Wer sich an die Tora hält, hat Leben in seiner Fülle.« Dieser Satz ist mit einem Hinweis auf den jüdischen Talmud-Traktat Pirqe Awot [»Sprüche der Väter«] II, 7 versehen (ebd.). Den Gegenpol zu dieser eigenständigen Tora bildet nicht das Neue Testament oder passender seine Evangelien, sondern »Jesus Christus, das Wort Gottes, das Fleisch geworden ist« (ebd.). Danach wird Papst Franziskus zitiert: »Auf der Suche nach dem richtigen Verhalten gegenüber Gott wenden sich die Christen Christus zu, der für sie die Quelle des neuen Lebens ist, und die Juden wenden sich der Lehre der Tora zu« (ebd.). Allerdings stellt die Kommission dazu fest, es gebe »keine zwei Heilswege nach dem Motto ›Juden halten die Tora, Christen halten sich an Christus‹« (25). Vielmehr seien »Tora und Christus […] Wort Gottes, seine Offenbarung für uns Menschen als Zeugnis seiner grenzenlosen Liebe.« (26). Und schließlich die für die Liturgie von Synagoge und Kirche entscheidende Passage: »Tora und Christus sind der Ort der Gegenwart Gottes in der Welt, zumal diese Gegenwart in den jeweiligen Gottesdienstgemeinschaften erfahren wird.« Der folgende Satz überbrückt die eben angedeutete Trennung zwischen Tora und Christus in der Hoffnung: Weil das hebräische dabar »Wort und Ereignis zugleich« heiße, lege sich »die Folgerung nahe, dass das Wort der Tora offen sein könnte für das Christusereignis« (ebd.).  Ich breche damit meinen kurzen Durchgang durch die Tora-Stellen des Dokuments ab. Das Problem einer der Kirche fremden und offenbar nur dem Judentum zugeordneten Tora dürfte deutlich geworden sein. Die Tora erscheint niemals als Teil des Alten Testaments bzw. der zwei-teilig-einen christlichen Heiligen Schrift. Als Christen und Christinnen können und dürfen wir aber nicht auf die Tora als Teil unserer eigenen Bibel verzichten.  Denn nach dem Neuen Testament bekennt sich die Kirche zur theologischen und ekklesiologischen Kontinuität mit dem biblischen Israel wie seiner Heiligen Schrift, behält also »das Gesetz und die Propheten«  . »Selbstverständlich ist die Tora durch Jesus noch einmal auf einen neuen Boden gestellt worden. Sie wird durch ihn definitiv ausgelegt und erhält eben dadurch ihre endzeitliche Gestalt. Das heißt aber gerade nicht, dass ganze Teile der Tora wie ausgebrannte Raketenstufen abgestoßen werden. Sie werden nicht abgestoßen, sondern verwandelt. Kein Teil der Tora darf als erledigt oder gar als abgeschafft betrachtet werden, aber die ganze Tora muss immer wieder neu von Jesus Christus her auf den Willen Gottes hin ausgelegt werden.« Deshalb kann und darf die Kirche die Tora niemals aufgeben, auch nicht Teile von ihr. Sie muss » die Tora freilich im Geiste Jesu lesen und leben – das heißt, aus der Kraft des Neuen, das mit ihm in die Welt kam, aus seiner Freiheit und Vernunft, aus seiner Radikalität und Gottesfurcht«.  Nicht zuletzt hängt die Identität des biblischen Gottes an der Verbindung zu seiner Tora.


Zweifellos gehört es zu den großen Errungenschaften der Liturgiekonstitution, das Volk des Alten Bundes in ihr heilsgeschichtliches Denken aufgenommen (SC 5) und den »Tisch des Wortes« auch mit Lesungen aus alttestamentlichen Büchern gedeckt zu haben (SC 35,2; 51). Dennoch bleibt das »Alte Testament« in den Konzilsdekreten bezüglich seiner kanonischen Struktur, also seiner Gliederung in die sogenannten fünf Bücher Moses, die Tora, sowie die Geschichts-, Weisheits- und Prophetenbücher undifferenziert. Ich komme auf den Kanon als geordnete Sammlung der Bücher, die eine Glaubensgemeinschaft als Wort Gottes ansieht und von der sie ihre Identität bezieht, noch zurück. Die Dokumente des Zweiten Vatikanum erwähnen zwar öfters die »Propheten«, nennen aber nur einmal ausdrücklich die »Bücher der Propheten« (Lumen Gentium 6). Von der Tora bzw. dem »Gesetz« schweigen sie ganz. Und damit vom »Jüdischen am Christentum« . Dieses Defizit hatte für die nachkonziliare liturgische Erneuerung negative Auswirkungen. Ich möchte deshalb im Folgenden in zwei Zusammenhängen zeigen, wo Umbauten die Tora betreffend notwendig, aber auch möglich wären.


Als erstes Beispiel wähle ich die sogenannte Bundespassage im 4. Hochgebet.  Dieses eucharistische Hochgebet ist eine Neuschöpfung. Als Vorlagen dienten vor allem die ostkirchliche Jakobos- und Markos-Anaphora. Sie enthalten im sogenannten Postsanktus zwischen Sanktus und Herrenworten bzw. »Einsetzungsbericht« einen geschichtlichen Abriss der alttestamentlichen Heilsökonomie. In ihr hat Gott durch »Gesetz und Propheten« mit Israel eine Geschichte des Heils auf den kommenden Erlöser hin begonnen. Man bezeichnet diese besondere Auszeichnung des erwählten Volkes und die damit verbundene Aufgabe im Heilswerk Gottes an allen Völkern als die »Heilsprärogative Israels«. Ich komme darauf zurück. Der Doppelausdruck »Gesetz und Propheten« meint in der Bibel und bei den Kirchenvätern zunächst die Heilige Schrift des Alten Bundes in ihren beiden Hauptteilen, kann aber auch für Israel bzw. seine Geschichte stehen. Darauf verweist der Ausdruck auch in den altorientalischen Anaphoren. Das 4. Hochgebet hat diese geprägte Wendung »Gesetz und Propheten« durch das in der Tradition nicht belegte Wortpaar »Bundesschlüsse« (foedera) und »Propheten« (prophetae) ersetzt. Es vermeidet also bewusst den Begriff »Gesetz«, die Tora.


Die Passage lautet in den offiziellen Texten:


Immer wieder hast du den Menschen deinen Bund angeboten und sie durch die Propheten gelehrt, das Heil zu erwarten.

Sed et foedera pluries hominibus obtulisti eosque per prophetas erudisti in exspectatione salutis.


Entscheidend ist: Wem gilt das hier gepriesene Wirken Gottes? Wer sind »die Menschen«, denen Gott seinen Bund – im lateinischen Text steht dafür der Plural foedera – angeboten hat? Die universalen Heilsaussagen, die im Hochgebet der Bundespassage unmittelbar vorausgehen, zwingen dazu, dabei an die ganze Menschheit zu denken, der Gott nach dem Einbruch der Sünde durch sein Erbarmen geholfen hat. Somit sind alle Menschen Partner der göttlichen Bundesschlüsse, nicht nur Israel. Und gleiches gilt für die Lehrtätigkeit der Propheten über die Erwartung des Heils. Das 4. Hochgebet entfaltet also aus einer gesamtmenschheitlichen Schöpfungs- und Sündentheologie eine wiederum auf die ganze Weltgesellschaft ausgerichtete Heilsökonomie. Der theologische Mangel dabei ist: Trotz der bibelimprägnierten Stichwörter »Bund« und »Propheten« verschwindet die Heilsfunktion des Volkes Gottes für die Völker der Welt. Denn Gottes Heilshandeln nimmt seinen Weg nicht wie nach der Bibel über Israel, sondern umfasst dem Hochgebet zufolge ja immer schon die ganze Menschheit.


Menschheitsbünde kennt allerdings weder das Alte noch das Neue Testament. Der Noachbund, den die Verfasser des Hochgebets vermutlich in das göttliche Bundesangebot einschließen wollten, ist der einzige Bund, den Gott »mit allem Fleisch«, das heißt mit allen Lebewesen, auch den Tieren, geschlossen hat (Gen 9,8-17). Doch wird er von ihm nicht »angeboten«, sondern durch eine eidliche Selbstverpflichtung souverän gesetzt. Weil Gott seinen Bund nicht bricht, ist der Noachbund – wie nur noch der Abrahamsbund – ein ewiger Bund. Er ist deshalb einmalig und wird nicht »immer wieder« angeboten. Inhaltlich betrifft der Noachbund nicht das Gottesverhältnis der Menschen, den Kult oder die Religion. Er eröffnet keine allgemeine Heilsgeschichte neben einer speziellen mit Israel. Er besagt nur, dass Gott keine zweite Sintflut über die Erde bringen will. Vom Noachbund abgesehen ist der Bundesbegriff im Alten Testament für das spezifische Verhältnis Gottes zu Israel reserviert (vgl. auch Röm 9,4). Das heißt zusammenfassend: »Bei einer Aussage [des 4. Hochgebets] über Bundesschlüsse Gottes mit der Menschheit steht die Heilsprärogative Israels in unserer christlichen Erlösungsgeschichte und in der universalen Heilsökonomie Gottes auf dem Spiel, und zwar an liturgisch hochwertiger und hermeneutisch qualifizierter Stelle.« 


Wie konnte es zu dieser theologisch missglückten Formulierung kommen? Wahrscheinlich hängt sie mit der sprachlichen Bundesinflation in der Theologie der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zusammen, in der föderaltheologische Konzepte in Mode waren. Dagegen erschien die Tora bzw. das mosaische Gesetz offenbar als unzeitgemäß oder gar obsolet.  Das peinliche Problem hätte sich vermeiden lassen, wäre man zum Beispiel beim Textentwurf von Vagaggini geblieben, der lautete: »In deiner Güte hast du ihn [den Menschen] durch Gesetz und Propheten zum Erlöser geführt.«   Hier umfasst der Heilswille Gottes, der seine Schöpfertätigkeit fortsetzt und seit dem Sündenfall kontinuierlich am Werk ist, aufgrund der bekannten, auf Israel verweisenden Formel »Gesetz und Propheten« die gesamte alttestamentliche Heils¬ökonomie. Somit erscheint ein Alternativtext für die Bundespassage des 4. Hochgebets als dringend erwünscht. Er sollte einen ergänzenden Hinweis auf das »Gesetz Moses« enthalten. Am besten würde er auch Israel direkt nennen. Außerdem müsste dem Sprachgebrauch des Alten Testaments entsprechend »Bund« in der Einzahl stehen. Norbert Lohfink hat – unter Aufnahme des vom Hochgebet vorgegebenen Wortmaterials – folgende Neufassung empfohlen:


Du hast deinem Volk Israel das Gesetz gegeben und einen Bund mit ihm geschlossen.

Durch die Propheten hast du es gelehrt, das Heil zu erwarten.


Die Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen katholischen Alttestamentler und Alttestamentlerinnen hat ebenfalls einen Verbesserungsvorschlag in die vor zwei Jahrzehnten rege Debatte eingebracht.  Er berücksichtigt ausdrücklich auch den Noachbund und den universalen Heilswillen Gottes. Ich kann nicht mehr darauf eingehen. Allerdings dürfte beim 4. Hochgebet nach dem Erscheinen der dritten Auflage des Missale Romanum in der nächsten Zeit kaum eine Änderung zu erwarten sein.


Das zweite Beispiel betrifft die Tora nicht als Begriff, sondern als Text, also den Pentateuch, und seinen Stellenwert im neuen Messlektionar, dem Ordo lectionum Missae. Die Einführung einer alttestamentlichen Lesung in der Sonn- und Festtagseucharistie, und zwar gegen die eigene älteste römische Tradition, und die Wiedereinführung des Antwortpsalms können in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden.  Weiter konnte man damals weder von der Liturgie- noch der Bibelwissenschaft her sehen. Von dieser Reform ist unerwartet die vielleicht größte ökumenische Wirkung des Konzils ausgegangen. Doch kam aus den nichtkatholischen Kirchen auch die erste Kritik an der alttestamentlichen Perikopenauswahl. Der innerkatholische »Streit am Tisch des Wortes«  erwachte erst später.  Erich Zenger hat seine Kritik unter der programmatischen Überschrift »Die jüdische Wurzel wird verdrängt«  vorgetragen. Dass die alttestamentliche Lesungsauswahl vom Evangelium her erfolgt, bewirkt zum Beispiel, dass die Perikopen nicht nach ihrer Bedeutung im Alten Testament ausgesucht werden und zusammenhanglos bleiben.  Sie verkommen praktisch »zu einem Stichwortlieferanten, zur Einstimmungsmelodie oder bloßen illustrativen Kulisse des Evangeliums«.  Der Rahmen meines Vortrags erlaubt es nicht, die verschiedenen Ansätze für ein neues Lektionar vorzustellen. Deshalb möchte ich sofort meinen eigenen skizzieren,   der inzwischen als »Wiener Perikopenordnung« zitiert wird . Eigentlich enthält mein Modell gar keinen Entwurf einer Textauswahl, sondern entwickelt nur die Grundstruktur der Schriftlesungen für die »grünen Sonntage« in den vorgegebenen drei Lesungsjahren. Es ist aber bisher der einzige Entwurf, der den Perspektivenwechsel der modernen Exegese zum »canonical approach«, also zur »kanonischen Methode«, berücksichtigt. Sie macht damit ernst, dass ein Bibeltext nicht nur in seinem unmittelbaren Kontext bzw. innerhalb seines Buches oder des Alten Testaments insgesamt, sondern vor allem im Rahmen der ganzen vorliegenden Heiligen Schrift auszulegen ist, wie Kirche und Synagoge sie benutzen. Für die Liturgie bedeutet dieser Wechsel: den Schwerpunkt von einer heilsgeschichtlich konstruierten, das heißt hier: einer chronologischen Geschichtsdarstellung des Gotteshandelns, auf eine kanonisch organisierte Schriftlesung verlegen. Damit wird kein »Abschied von der Heilsgeschichte« proklamiert.  Dieser Begriff bleibt wichtig, zum Beispiel um zu betonen, dass Gott in der Geschichte handelt, und um Judentum wie Christentum von rein schöpfungsorientierten Religionsformen abzuheben. Doch dient Heilsgeschichte in der auf den historischen Ablauf der Geschichte Israels reduzierten Form nicht mehr als Leitprinzip. Denn das Alte Testament lässt sich – wie seine lyrischen und weisheitlichen Bücher zeigen – nicht auf die Kurzformel »Heilsgeschichte« im Sinn eines zusammenhängenden Geschichtsbuchs bringen. Seine kontinuierliche Geschichtsdarstellung endet übrigens schon mit der Zeit des babylonischen Exils.


Die Liturgiekonstitution verlangt: »Bei den heiligen Feiern soll eine reichere, vielfältigere und passendere (abundatior, varior et aptior) Lesung der Heiligen Schrift eingeführt werden« (SC 35,2). Ferner soll »innerhalb eines vorher festgelegten Zeitraums von Jahren der wichtigere Teil der Heiligen Schriften (praestantior pars Scripturarum Sanctarum) dem Volk vorgelesen« werden (SC 51). Diese Anordnungen lassen sich mit verschiedenen Verfahren bei der Auswahl und Anordnung der Perikopen erfüllen.  Soll also ein repräsentativer Querschnitt gelesen werden? Oder sind überhaupt nur Leitideen wie das Mysterium Christi und die Heilsgeschichte anvisiert?  Oder sollte man nicht die Bibel selbst befragen, was der »vorzüglichere Teil der jeweiligen Schriften« ist? Das hieße, »darauf zu achten, wie unser Bibelkanon durch seine innere Struktur seine Teilbereiche trotz gleicher Offenbarungsqualität gewichtet und zueinander in Beziehung setzt, und wie das Neue Testament selbst alttestamentliche Bücher durch ihre Zitation innerkanonisch verschieden einschätzt.«  Dieses Anliegen möchte mein Vorschlag verwirklichen. Dazu im Folgenden.


Der Wortgottesdienst unserer Eucharistiefeier folgt einer rituellen Struktur, die der Struktur des Kanons unserer Heiligen Schrift entspricht. Denn zunächst wird aus dem Alten Testament und anschließend aus dem Neuen vorgelesen. Das stimmt mit der Grundaufteilung der christlichen Bibel überein. Ihr Aufbau spiegelt sich also in der Leseordnung. Allerdings ist er noch differenzierter, als die Zweiteilung in die beiden Testamente anzeigt. Denn auch innerhalb der Testamente ist die Abfolge der Bücher geregelt, mehr noch: ihre Ordnung ist gewichtet, es werden kanonische Schwerpunkte gesetzt. Unsere Liturgie respektiert sie beim Neuen Testament, indem sie zwischen den Evangelien und den übrigen neutestamentlichen Schriften unterscheidet. Beim Alten Testament gliedert sie jedoch nicht weiter. Genau an dieser Stelle liegt das Defizit unserer Leseordnung, auf das ich aufmerksam machen möchte. Denn im Alten Testament kommt der Tora, also dem Pentateuch, – analog zu den Evangelien – ebenfalls eine qualifizierte Position zu.  Tora wie Evangelien enthalten nämlich die Gründungsgeschichte Israels bzw. der Kirche.  Die Tora erzählt von der Schöpfung bis zum Tode Moses, genauer: sie zieht die geschichtlichen Anfänge des Volkes Israel in die Urgeschichte hinein und endet an der Schwelle des Verheißungslandes. Die Evangelien enthalten die Zeit des Lebens Jesu, seines Leidens, Sterbens und Auferstehens als die für die Kirche neue und eigentliche Urzeit. In ihrer kanonischen Vorrangstellung gehen Tora und Evangelien in der Bibel den übrigen Büchern bzw. Büchergruppen voraus, die ihnen komplementär und explikativ zugeordnet sind. Deshalb gebraucht das Neue Testament, wenn es zusammenfasst, was im Alten Testament enthalten ist, die schon öfters erwähnte Kurzformel »Gesetz und Propheten«. Eine dem Kanon gemäße Gestalt der Leseordnung hätte also die Struktur einer Ellipse mit der Tora und den Evangelien, den beiden Gründungsgeschichten des Alten und des Neuen Testaments, als Brennpunkten. Dass das Evangelium im Wortgottesdienst noch heute die Schlussstellung einnimmt, könnte ursprünglich mit dieser Doppelpoligkeit zusammenhängen. In ihrem Gefolge wäre die neutestamentliche Bücheranordnung umgedreht worden, weshalb die nichtevangelischen Schriften vor dem Evangelium gelesen werden. Und die Endstellung des Evangeliums hielt auch dann noch die Anfangsstellung für die Tora frei, als diese nicht mehr vorgetragen wurde.


Mein Vorschlag plädiert für (Wieder-)Einführung einer Toralesung.  Sie soll an den »grünen Sonntagen« während des Jahres in einem einzigen Durchgang, aber über drei Jahre verteilt, wie das Evangelium in Form einer Bahnlesung gelesen werden.  Das heißt, dass die Reihenfolge der Perikopen aufgrund der Bibel festliegt, aber einzelne Texte übersprungen werden können. Zwischen Toralesung und Evangeliumslesung soll, anders als jetzt, nicht nur eine neutestamentliche, sondern alternativ dazu auch eine alttestamentliche Lesung zur Verfügung stehen. Diese zweite Lesung ist für Propheten- und Weisheitsbücher wie für die nichtevangelischen Schriften des Neuen Testaments vorgesehen. Sie ist jeweils auf den Toraabschnitt bzw. auf die Evangeliumsperikope abzustimmen und hat entsprechend der kanonischen Struktur Kommentarcharakter. Damit entspräche die Leseordnung, was ihre alttestamentlichen Texte angeht, auch der Toraliturgie der Synagoge. Denn in ihr folgt auf die Tora eine passende Prophetenlesung, die Haftara, als ihre erste authentische Erklärung und Aktualisierung.  Es fehlt mir die Zeit, dieses Modell ausführlicher zu beschreiben und zu begründen. Sie finden dazu einige Artikel in dem von mir und Norbert Lohfink veröffentlichten Aufsatzband »Liturgie und Bibel« . Eigentlich möchte ich mit meinem Vorschlag ja nur ein Beispiel dafür bringen, wie das Anliegen der Liturgiekonstitution aufgrund von Impulsen der Bibelwissenschaft, aber auch der Ökumene mit dem Judentum weiterentwickelt werden sollte.

Abschließend werfe ich noch einen kurzen Blick in die Liturgiegeschichte. Denn wer Grundätze für ein künftiges Lektionar formuliert, soll sie auch an der kirchlichen Tradition überprüfen. Im Blick auf alttestamentliche Perikopen befragt man dazu am besten die syrischen Kirchen. Ich greife die ostsyrische Leseordnung heraus.  In ihr dürfte eine altkirchliche Lektionsstruktur bis heute überlebt haben. Ihre klassische Normalordnung besteht in einem Vierlesungssystem: Die erste Lesung ist der Tora entnommen, die zweite den übrigen Büchern des Alten Testaments als Kommentar; die dritte Lesung stammt aus den nichtevangelischen Schriften des Neuen Testaments als Kommentar zu den Evangelien, aus denen die vierte und letzte Lesung stammt. Diese offenbar altkirchliche Praxis legitimiert meine Empfehlung, die Tora auch im römisch-katholischen Lektionar als Bahnlesung neben einer wählbaren zweiten Perikope aus dem übrigen Alten Testament in die Sonntagseucharistie einzubauen.  Im Übrigen wurde, was ich eben als »Wiener Modell« skizziert habe, in einem vor wenigen Monaten veröffentlichten ökumenischen »Lektionar der christ-katholischen Kirche in Deutschland« in einer zweijährigen Leseordnung und sogar für alle Sonn- und Feiertage des Jahres verwirklicht. 


Am Ende kehre ich nochmals zum entscheidenden Problem zurück – zu einem Perspektivenwechsel unserer Theologie und einer Umgestaltung unserer Liturgie angesichts Israels, letztlich zu einem »Christsein mit Tora und Evangelium« . Im Lukasevangelium antwortet Abraham im Gleichnis vom armen Lazarus dem reichen Mann in der Unterwelt auf typisch jüdische Weise: »Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören!« Auch der auferstandene Jesus kann sein Geschick nur anhand von Mose und den Propheten erklären: Er legt nämlich den beiden Emmausjüngern dar »ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht.« (Lk 24,27). Nach dem Johannesevangelium hat sich Jesus ganz an die Tora gebunden. Im Streit mit seinen Gegnern stellt er deshalb ausdrücklich fest, »dass die Schrift nicht aufgehoben werden kann« (Joh 10,35). Denn die Tora, »das Gesetz wurde durch Mose gegeben« (1,17) und darf nicht außer Kraft gesetzt werden (7,23). Vor allem aber gilt: »Wenn ihr Mose glauben würdet, würdet ihr mir glauben!« (5,46).  Dürfen wir dann in unserer Messliturgie weiterhin die Tora nivellieren oder sogar auf sie verzichten?


Vorliegender Artikel ist zuerst im Liturgischen Jahrbuch 2016 Heft 2 erschienen. Wir danken dem Verfasser für die freundliche Abdruckgenehmigung. 



Update biblische Theologie


Eric H. Cline

Warum die Arche nie gefunden wird

Biblische Geschichten archäologisch entschlüsselt

Darmstadt 2016, 308 S. 24,95€


Vorliegender Band reiht sich in die bisherigen von der wissenschaftlichen Buchgesellschaft im deutschen Sprachraum verbreiteten Schriften des Direktors des Archäologischen Instituts der Georg Washington Universität nahtlos ein. Cline geht es darum Wissen zu vermitteln und er sieht sich zahlreichen Gegnern gegenüber. In der biblischen Archäologie gibt es sogenannte Minimalisten, welche so gut wie nichts von dem was die Bibel berichtet für historisch halten, andererseits gibt es die Maximalisten, die so gut wie alles für historisch halten. Der Autor versucht einen, an den Fakten orientierten Mittelweg zu finden. Jenseits dieser berechtigten Fachdebatten ficht der Publitzer Preisträger jedoch vor allem auch gegen sogenannte Enthüllungsjournalisten und Glücksritter, welche immer wieder behaupten spektakuläre Funde wie die Arche Noah, den Garten Eden oder die Bundeslade gemacht zu haben. Er plädiert für wissenschaftliche Arbeit, gerade wenn es um einen Gegenstand wie die biblische Geschichte geht. Eine hervorragende Umsetzung dieser Arbeitsweise findet er am Institut für Altes Testament und Biblische Archäologie der Andrews Universität der Siebenten-Tags-Adventisten in Michigan. Obwohl sich die Werke des Autors durch einen sehr amerikanischen Stil auszeichnen sind sie doch mangels entsprechender Alternativen auch im deutschen Sprachraum unverzichtbar.   


Klaus Berger

Die Bibelfälscher

Wie wir um die Wahrheit betrogen werden

München 2013, S.352, 22,99€


Klaus Berger, der knorrige alte Mann der deutschen Exegese, rechnet mit der Bibelforschung der vergangenen zweihundert Jahre ab. Genaugenommen mit der sogenannten liberalen (protestantischen) Exegese in der Schule Rudolf Bultmanns. Durch Formkritik wollten die Bibelwissenschaftler den historischen Jesus herausarbeiten und haben ihn buchstäblich ins Nichts hinein aufgelöst. Durch zwei Prämissen sollte Jesus gefunden werden. Zum einen durch seine Abgrenzung vom Judentum und zum anderen durch Distanz zum Frühkatholizismus. Für Berger steht hinter diesen Ansätzen nicht wissenschaftliche Redlichkeit, sondern protestantischer Dogmatismus. Warum außer dem Autor eigentlich kaum ein katholischer Exeget in Widerspruch zur protestantischen Bibelwissenschaft steht, kann oder will er allerdings nicht hinreichend darlegen. In dieser Hinsicht raunt er lediglich von exegetischen Karrierenetzwerken. Die Fülle seiner nicht immer gut ausgebreiteten Anklagen überspannt dann auch an mehreren Stellen die Möglichkeiten dieses Buches. Wer es dennoch schafft, mit liebender Geduld das Buch durchzuarbeiten, wird allerdings auch an vielen Stellen mit sehr positiven und weiterführenden Auslegungen belohnt. Ein Buch, welches jeden Theologen zum Nachdenken anregen und alle Bibelinteressierten zum kritischen Nachfragen anzuleiten vermag. 


Paul Lawrence

Der große Atlas zur Welt der Bibel

2. Auflage, Gießen 2017, S.188, 20€


Die englische Originalausgabe dieses Bibelatlasses stammt von 2006 und wurde in erster Auflage bereits 2007 durch den Brunnen Verlag in deutscher Sprache herausgegeben. Das großformatige Werk ist mit vielen Karten, Graphiken, Fotos und Infoboxen reich ausgestattet. Theologisch bekennt sich der Atlas zu seinem protestantischen Hintergrund mit besonderer Nähe sowohl zur Universität Liverpool und dem Lehrstuhl von Prof. Kenneth Kitchen, als auch zur Freien Theologischen Hochschule in Gießen und der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule in Basel. Man könnte folglich nicht nur vom einem protestantischen Atlas, sondern auch von dem evangelikalen Atlas schlechthin sprechen. Nichtsdestotrotz sind alle Autoren und Herausgeber ausgewiesene Experten der Archäologie und der biblischen Sprachen. Veröffentlichungen der letzten zehn Jahre spielen bei der Neuauflage des Atlasses allerdings keine Rolle, womit der Sachstand (2006) der ersten Auflage unverändert Bestand hat.

Die Herausgeber wünschen sich, dass die Aussagen der Bibel nicht nur an außerbiblischen Zeugnissen und Funden gemessen werden, sondern selber auch als historisch glaubwürdiges Zeugnis wahrgenommen werden. Als sehr schönes Beispiel wird hier z.B. das Problem der Kamele zur Erzväterzeit angeführt. Archäologen und Historiker gehen im Allgemeinen davon aus, dass Kamele nicht vor dem zwölften vorchristlichen Jahrhundert domestiziert wurden. Folglich müssten die Vätererzählungen entweder deutlich später angesetzt werden als dies die biblische Chronologie tut, oder diese Erzählungen müssten als reine Literatur ohne historischen Hintergrund verstanden werden, oder aber die biblische Erzählung selbst ist ein Hinweis auf deutlich ältere Kamelhaltung als dies bisher allgemein angenommen wird.

Der Atlas bietet nun zahlreiche archäologische Funde und Hinweise aus der Väterzeit auf, welche beweisen sollen, dass die biblischen Berichte von Kamelen aus dieser Zeit tatsächlich historisch zutreffen könnten. 

Weniger glücklich verhält sich die Darstellung der Eroberung Jerichos. Hier streichen die Autoren vor der eindeutigen archäologischen Faktenlage die Segel und geben schlicht nur die biblische Erzählung mit dem Hinweis wieder, dass diese Erzählung „offensichtlich aus israelitischer Perspektive dargestellt“ sei.


Voranschreiten durch Erinnerung

Die Bischof Hodur Option

Von Klaus Mass


Bischof Francis (Franciszek) Hodur (1866–1953) war der erste Primebishop der Polish National Catholic Church (PNCC). Aus seiner Initiative ist letztlich nicht nur die PNCC entstanden, sondern auch die Polnisch-Katholische Kirche in Polen und nicht zuletzt auch die Union von Scranton, welche sich heute zunehmend in Europa etabliert. Jede Zukunftsgestaltung der Union von Scranton braucht daher stets auch Erinnerung an ihren Ursprung. Und diese zukunftsführende Erinnerung möchte ich „die Bischof Hodur Option“ nennen.


Francis Hodur wurde 1866 bei Krakau geboren und siedelte noch als junger Priesteramtskandidat 1892 in die USA um, wo er ein Jahr später zum Priester der römisch-katholischen Diözese Scranton geweiht wurde. 1898 kam es innerhalb der Diözese zu einem kulturellen Konflikt, da sich die polnischen Katholiken (oft Bergarbeiter) in ihrer neuen Heimat durch die Bistumsleitung kulturell benachteiligt fühlten. Hodur versuchte zu vermitteln und wurde dabei zum führenden Sprecher seiner Landsleute. Da der Konflikt vor Ort nicht zu klären war, reiste er nach Rom in der Hoffnung auf Vermittlung durch den Hl. Stuhl. Da er jedoch weder auf Bistums- noch auf Weltebene Verständnis und Unterstützung für sein Anliegen erhielt, trennte er sich von der römisch-katholischen Administration und gründete eigene polnisch-katholische Gemeinden in den USA. Aus diesen Gemeinden wurde 1907 eine eigenständige Kirche, die Polish National Catholic Church (PNCC), welche sich der Utrechter Union anschloss und über den Erzbischof in Utrecht das apostolische Amt erhielt.


Die römisch-katholische Kirche hat unter Papst Johannes Paul II anerkannt, dass den Katholiken der Hodur-Gruppe Unrecht getan wurde. So hat sich der Papst nicht nur dafür entschuldigt, sondern auch die Exkommunikation von Francis Hodur zurückgenommen und somit den Weg für die Communicatio in sacris (welche seit 2006 besteht) eröffnet.   


Unsere (Nordisch-Katholische) Kirche ist keineswegs einfach so vom Himmel gefallen, sondern Folge konstanter Entwicklungen. Für unsere kirchliche Identität ist es nun von größter Bedeutung zu überlegen, an welcher Stelle der Kirchengeschichte wir unseren Ausgangspunkt sehen. Hier könnte man aus norwegischer Sicht zunächst die Loslösung der Nordisch Katholischen Kirche aus der Norwegischen Staatskirche sehen. Aber auch das war ja kein Anfang, sondern ein Entwicklungsschritt. Ein Entwicklungsschritt, der wiederum in eine ältere kirchliche Struktur hineingeführt hat, in die Gemeinschaft mit der PNCC.


Das Entstehen der Nordisch-Katholischen Kirche wäre undenkbar, wäre es nicht zur Gemeinschaft mit der PNCC gekommen. Die PNCC hat hier auch nicht einfach eine Hebammenrolle übernommen, sondern ist zur geistlichen Mutter der Nordisch-Katholischen Kirche geworden. Über die PNCC und mit dieser hat sich die Identität der Nordisch-Katholischen Kirche entwickelt, ausgeformt und hat ihren klaren Ausdruck in der Union von Scranton gefunden.


Und es gibt zwei wesentliche Grundlagen der Union von Scranton, an die wir in diesem Augenblick denken müssen: erstens die Erklärung von Scranton und zweitens das altkatholisch-orthodoxe Dialogdokument „Koinonia auf altkirchlicher Basis.“ Beide Dokumente machen eines ganz deutlich, die Union von Scranton versteht und definiert sich, durchaus in Parallele zur Utrechter Union, als altkatholische Kirche. So reformuliert die Erklärung von Scranton ausdrücklich die Utrechter Erklärung.


Die Union von Scranton ist also eine altkatholische Kirche, die sich in kritischer Auseinandersetzung mit der Utrechter Union gebildet hat. Im Gegensatz zur Utrechter Union hat die Union von Scranton allerdings einen deutlich anderen kulturellen Schwerpunkt. Im einen Fall liegt dieser Schwerpunkt in Europa, im anderen Fall in den USA. (Die kulturelle Identität ist von der kirchlichen Identität stets zu unterscheiden.) Die Utrechter Union ist geprägt durch die Geschichte der Utrechter Kirche und den Auseinandersetzungen der deutschen und schweizerischen Altkatholiken mit den dogmatischen Beschlüssen des ersten Vatikanums. Die PNCC hingegen ist erst einige Jahrzehnte später hinzugekommen. Auch wenn sie sich der theologischen Kritik der Altkatholiken an der römischen Kirche angeschlossen und von Utrecht auch ihr Bischofsamt empfangen hat, so ist die PNCC doch nur auf dem Hintergrund ihres spezifischen ethnisch-kulturellen Erbes zu verstehen.


Am Anfang der PNCC stand ein großer Visionär, Bischof Francis Hodur. Ein Mann, der wie Mose sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens in ein neues Land zu führen verstand.   

Und ich möchte an das Erbe des ersten Primebishops erinnern, da ich glaube, dass es uns heute von großer Hilfe sein kann.


-Francis Hodur hat eine Sammelbewegung geschaffen für gleichgesinnte Menschen. Einen Ort, wo Menschen ihren Katholizismus leben konnten, die sich in der römischen Kirche ausgegrenzt oder nicht verstanden fühlten.

-Übrigens nicht nur Menschen polnischer Abstammung, von Anfang an lebte die PNCC auch in Gemeinschaft mit der Kirche der litauischen Emigranten. (Heute gibt es auch spanischsprachige Gemeinden in den USA.)

-Hodur hat seine Sammelbewegung nicht einfach in den luftlehren Raum, sondern diese in eine konkrete kirchliche Gemeinschaft mit der Utrechter Union gestellt und damit auch an das Erbe Döllingers angeknüpft.

-Er hat nicht einfach die römische Kirche kopiert, sondern ein eigenes theologisches Profil herausgearbeitet. Mit der Verbindung von Taufe und Firmung hat er bereits vor hundert Jahren an alt- und ostkirchliches Verständnis angeknüpft. Mit der Herausarbeitung der Sakramentalität der Verkündigung des Wort Gottes hat er eine Brücke zu den protestantischen Kirchen geschlagen und ist doch zugleich tief in der katholischen Ekklesiologie verblieben. Mit der Einführung des Festes von der „brüderlichen Liebe“ hat er einen Aspekt der Versöhnung zu leben gewagt.

-Und, was die PNCC heute vielleicht etwas zu wenig beachtet, Hodur war ein Arbeiterpriester. Ein Mann, dessen Theologie die konkreten sozialen Probleme seiner Gläubigen nie außer Acht ließ. Hier baut er eine Brücke zur katholischen Soziallehre.

-Er war ein ökumenischer Theologe, der sich auf die „Bonner Vereinbarung“ einlassen konnte und die Gemeinschaft mit den anglikanischen Kirchen in den USA lebte.

-Und schließlich war er ein missionarischer Bischof, der eine Tochterkirche in Polen zu gründen verstand.


Wenn wir uns dieses Hodur-Programm zu Eigen machen, dann erhalten wir einen Rahmen für unsere zukünftige Arbeit. Einen Rahmen, der Identität verheißt und zugleich Offenheit schafft. Einen Rahmen, der uns ökumenisch Bewegung ermöglicht und zugleich unsere Katholizität bewahrt.


Die Herausforderungen der Gegenwart


Unsere Gesellschaften in Nordamerika und Europa sind, wenngleich nicht überall mit derselben Geschwindigkeit, in einem Umbruchprozess. Wir alle sind noch in eine christlich geprägte Gesellschaft hineingeboren worden. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Kirchen aller Konfessionen jedoch zu erodieren begonnen, woraus sich ein unaufhaltsames Voranschreiten einer postchristlichen Gesellschaft entwickelte. Forderte man zunächst von den Christen nichts als Toleranz, geht es heute oft nur noch darum das Christliche zu tolerieren. In Deutschland und sicherlich auch in allen anderen westlichen Ländern hat sich diese Entwicklung lange abgezeichnet, z.B. an der Frage wie blasphemisch Kunst im öffentlichen Raum sein dürfe, oder ob das Symbol des Kreuzes in öffentlichen Gebäuden zulässig sei. Ganz aktuell, zumindest in unserem Land, ist die Frage nach der Zulässigkeit der Ehe zwischen Menschen gleichen Geschlechtes. Vorbereitet wurde diese Situation durch „Gender Studies“ (Judith Butler), welche die Geschlechtlichkeit des Menschen grundsätzlich nicht biologisch, sondern sozial zu beantworten suchen. Ein freier Mensch findet sein Geschlecht folglich nicht vor, sondern wählt es selbst. Unerwünschte Kritik an diesen Entwicklungen kommt nun weniger aus dem Christentum, als denn aus dem Islam. Da der Islam jedoch gegenwärtig offensichtlich kaum in der Lage ist, sich hier theologisch oder philosophisch zu positionieren, reagiert er nicht selten mit archaischen Umgangsformen. Interessanterweise ist genau an diesem Punkt eine zweite Konfliktlinie mit den „Gender Studies“ gegenwärtig innerhalb des Feminismus (Alice Schwarzer) ausgebrochen. Da sich der Feminismus stets auch als Antirassismus versteht, dürfte es keine Kritik am Islamismus geben. Da Alice Schwarzer nun jedoch seit Jahren eine solche Kritik formuliert, seit der „Kölner Silvesternacht“ umso klarer, gilt sie bei Judith Butler als Rassistin. Ein vordergründiges Problem besteht darin, dass Butler die Differenzierung zwischen Islam und Islamismus nicht zu verstehen scheint. Das tieferliegende Problem scheint darin zu liegen, dass Schwarzer der sozialen Konstruierbarkeit der Geschlechter nicht oder doch nur bedingt folgt. Für Alice Schwarzer gibt es Menschen, die schlicht und einfach Frauen sind und sich ohne Wenn und Aber auch so verstehen. In den vergangenen Monaten wurde dieser Konflikt in der Wochenzeitung „Die Zeit“ breit ausgetragen.


Im Gegensatz zu unserer eigenen Kindheit ist es heute möglich in den westlichen Ländern ohne jede christliche Prägung aufzuwachsen. Aus dieser Situation ergeben sich für uns Aufgaben und Chancen:


-Zum einen Gemeinden zu schaffen, die Menschen auf traditionelle Weise ansprechen, wo sie ein Christentum in Klarheit und Fülle finden, wie sie es anderswo nicht mehr finden. Gleichzeitig allerdings braucht es Gemeinden, die Menschen ansprechen, die für die christliche Sprache taub geworden sind. Katechumenale Gemeinden, die ans Christliche überhaupt erst einmal heranführen. Voraussetzung dafür wäre, dass die Bischöfe die Einheit zwischen diesen kulturell sehr unterschiedlichen Gemeinden stets aufrechterhalten.

-Zweitens braucht es theologische Bildung nicht nur für die Geistlichen. Bildung, die es uns ermöglicht die Philosophien der Gegenwart zu verstehen, die christliche Anthropologie zu vermitteln und den interkonfessionellen und religiösen Dialog zu führen. Dafür müssen wir an ökumenischen Tagungen teilnehmen und persönliche Kontakte zu Theologen aller Konfessionen knüpfen.

-Drittens, die Nordisch-Katholische Kirche ist sehr klein, lebt allerdings auf einer riesigen Fläche, daher werden wir schon aus organisatorischen (sprachlichen und kulturellen) Gründen in absehbarer Zeit mehrere regionale Bischöfe und Synoden benötigen. Voraussetzung dafür sind allerdings Gemeinden, welche diese Strukturen zu tragen vermögen.

-Schließlich sollten wir auch die Union von Scranton für weitere Partner öffnen. Partner, von denen wir allerdings eine katholische, sogar eine altkatholische Identität erwarten müssen. Was uns zusammenführt und hält ist ein gemeinsames Verständnis von bischöflicher und eucharistischer Kirche. Die bloße Ablehnung ethischer Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft kann dafür nicht genügen. 

-Menschen werden dann zu uns finden, wenn wir etwas zu sagen haben, in der Sprache der Menschen unserer Zeit und dieses dann auch glaubwürdig zu leben vermögen.


Fazit:

Die Herausforderung der Zukunft liegt darin, unsere altkatholische Identität in einem heutigen Hodur-Programm zu leben. Dafür müssen wir die Sprache unserer Zeit verstehen und in ihr zu antworten vermögen. Weder dürfen wir uns in einen romantischen Traditionalismus noch in die Moderne der Beliebigkeit flüchten.


Achtung – Forschungsstand 1923 - Achtung – Forschungsstand 1923

Die Neugründung der Kirche von Schweden im 13./14. Jahrhundert

Wiederentdeckung der Promotionsarbeit von Gustav Lindberg (Uppsala 1923)


(K.M.) Ein missale plenum (vollständiges Messbuch ) gibt es in der Westkirche erst seit dem 9. oder 10. Jahrhundert infolge der karolingischen Reformen. Zu einer umfassenden Verbreitung kam es im 13. Jahrhundert durch die Bettelorden. So ist es verständlich, dass es vor dem Konzil von Trient (und vor dem Buchdruck) eine große Fülle von regionalen Eigenarten in der Liturgie gab. Jedes Bistum hat die liturgischen Vorgaben mehr oder weniger auf eigene Weise umgesetzt. Größere Unterschiede gab es vor allem in den Kollektengebeten, der Perikopenordnung, den Allelujaversen, dem Heiligenkalender, Votivmessen, sowie der liturgischen Feierlichkeit. Der grundsätzliche Gottesdienstablauf, sowie die Nutzung des Canon Romanum waren überall weitgehend gleich. Erst der Buchdruck ermöglichte eine formale Gleichheit, sei es in einzelnen Diözesen oder Orden. Ein tatsächlich einheitliches Missale gab es erst mit dem Konzil von Trient. 


Die Christianisierung Schwedens setzt ca. 829 mit der Mission durch den Hl. Ansgar von Bremen herkommend ein. Den ersten Missionsversuchen folgten weitere durch englische Missionare. Etwa um das Jahr 1000 ließ sich König Olof Skötkonung taufen. Um 1102 wurde das Erzbistum offiziell von Bremen ins (dänische) Lund verlegt. Schließlich wurde 1164 das Bistum Uppsala Sitz des Erzbischofs von Schweden. Mit den englischen Missionaren kam die gallikanische Liturgie nach Schweden. Eine einheitliche westliche Liturgie war erst über die karolingischen Reformen dabei sich herauszubilden und durchzusetzen. Die westgotisch / fränkische Liturgie hatte vor allem in ihrer Perikopenordnung ältere (östliche) Ordnungen als die römische Liturgie bewahrt. Der Heiligenkalender war noch wenig ausgeprägt und noch nicht alle christlichen Feste (Trinitatis oder Fronleichnam) ausgeformt, lokalen Traditionen wurde noch weitgehend Raum geboten. Die Ursprünge der skandinavischen Liturgie liegen, wie überall im Westen, im Gregorianum und im Gelasianum. Die Liturgie hat jedoch nie gänzlich mit der römischen Liturgie übereingestimmt, sondern war stark von der gallikanischen Liturgie beeinflusst und hatte stets auch Raum für Eigenentwicklungen. So haben die englischen Missionare nicht nur fränkische Traditionen in der Liturgie, sondern auch eine auf die westgotische Tradition zurückzuführende Perikopenordnung mitgebracht, welche im Gegensatz zur römischen Ordnung die alttestamentlichen Lesungen beibehielt. Im Laufe der Jahre füllte sich der Heiligenkalender mit zahlreichen deutschen und englischen Heiligennamen. Als größte Eigenart der schwedischen Liturgie entwickelte ich im Laufe der Zeit eine Fülle von regional unterschiedlich genutzten Alleluja Versen.


Die ersten Zisterzienserklöster in Schweden entstanden in Alvastra und Nydala (ab 1143) als 40. und 41. Tochterkloster von Clairvaux. Innerhalb eines Jahrhunderts entstanden 6 Mönchs-und 7 Nonnenklöster. Die Klöster wurden zu Grablagen der Könige und zu Ausbildungsstätten des Adels. Mit der Ankunft des Ordens begann eine größere Zentralisierung und Romanisierung der Kirche. So wurde seit 1152 der Peterspfennig nach Rom abgeführt. Um ein neues Zisterzienserkloster zu gründen, muss das Mutterkloster zwölf Mönche und einen Abt entsenden. Ferner stattet das Mutterkloster seine Tochter mit allen notwendigen liturgischen Büchern aus. Für den wirtschaftlichen Unterhalt des Klosters sorgen die Konversen (Laienmönche). Mitte des 13. Jahrhunderts verblasste die Strahlkraft der Zisterzienser, ab 1220 traten die Dominikaner an ihre Stelle. Diese übernahmen das Bildungswesen und siedelten in den Ballungszentren. Mit den Dominikanern wurde die Vereinheitlichung der Liturgie und deren Anknüpfung an Rom weiter vertieft. Die Dominikaner übernahmen etliche Bischofssitze und stellten auch mehrere Erzbischöfe von Uppsala. Auch brachten sie eine neue Architektur (Ziegelbauweise, ausgehend von Norditalien über Deutschland) nach Skandinavien.


Im Folgenden entstanden neue regionale Messbücher, Gradualien, Breviere und Heiligenkalender. Weder waren diese Bücher einheitlich, noch galten sie über ihre Diözese hinaus. Es entwickelte sich nun eine typisch schwedische Art des Missale. Einerseits wurden alte Elemente (wie die Leseordnung) beibehalten, andererseits wurde die Ordensliturgie der Dominikaner übernommen. Während die Zisterzienser noch durch die Schlichtheit ihrer Liturgie auffielen, setzten die Dominikaner nun auf deren reiche Ausgestaltung.


Der liturgische Umbruch lässt sich auf 1240 datieren. Eine Feuersbrunst hatte die alte Domkirche abgebrannt, der Neubau war mit einem Umzug von Alt-Uppsala nach Neu-Uppsala verbunden. Die altenglische Tradition hatte die noch ältere deutsche Tradition vollständig verdrängt. Auch die älteste Architektur (Sigtunagruppe) lässt sich auf englische Einflüsse zurückführen (am Zentralturm und den schmalen Fenstern zu erkennen). Während in der alten Kirche noch die „englische“ Liturgie gefeiert wurde (Uppsala folgte stark dem Gelasianum nach dem Aachener Urexemplar), erklang in der neuen Domkirche nun die (dominikanische) „französische Liturgie“. Die neue Uppsalaliturgie wurde stark durch die Dominikaner geprägt (Veränderungen im Lektionar, sowie die Einführung eines neuen Heiligenkalenders, sowie der Dominikanerliturgie). Dennoch war die neue Liturgie nicht frei von alten Traditionen, sei es in den Antiphonen, in den Kollektengebeten, oder im Allelujaruf. Wurde der liturgische Kalender bisher vom Vallentuna Kalendarium (1198) geprägt, kam es nun zu einer grundlegenden Neuordnung, welche fast die Hälfte aller bisherigen Heiligen aus dem Kalender verbannte. Viele Namen waren ursprünglich über England nach Schweden gekommen und entfielen nun trotz regionaler Popularität: Beda, Alban, Eduard, Wilfried, oder Oswald. Gleiches gilt für deutsche Namen wie: Gertrud, Quirin, Willibrord, Othmar, Ignatz, Severin, Heribert, Vitalis, Alban, Firmin oder Hubert. Ferner wurden alttestamentliche Namen wie Amos, Elischa oder David gestrichen. Geblieben sind hingegen die Namen des römischen Kalenders. Neu hinzugekommen sind die Heiligen aus dem Franziskaner- und dem Dominikanerorden. Interessanterweise ist der Heilige Ansgar (der Apostel Skandinaviens) erst mit dieser Reform in den Kalender aufgenommen worden. Ein klares Zeichen dafür, wie sehr die britische Tradition die deutsche verdrängt hatte. Hier muss auch Erzbischof Fulco Johanson genannt werden, der im 14. Jahrhundert die Verehrung des Hl. Erik vorantrieb.


Hinter der Reform (1344) stand das Domkapitel von Uppsala, ein überschaubarer Kreis (aus den Familien Israelson, And und Angel) mit dem Recht, den Erzbischof unter sich zu wählen. Denen zur Seite oder auch kritisch gegenüber standen die Vertreter der Orden, welche Roms Anspruch und Universalität durchzusetzen suchten. Wer Karriere machen wollte, ging in diesen Tagen zum Studium an die Universität Paris. Die Reform manifestierte sich folglich durch die Kultur der Bettelorden, den Neubau von Kathedralen, sowie durch eine Erneuerung der Liturgie. 

Das älteste gedruckte Missale Schwedens (1483/84) stammt entweder von Bartholomäus Gothan oder von Johannes Snell. 1513 folgte eine zweite Auflage, sowie ein Brevier. Die Veränderungen von der ersten zur zweiten Auflage liegen zum einen darin, dass eine Reihe von Heiligenfesten und Votivmessen hinzugefügt wurde und andererseits die priesterlichen Vorbereitungsgebete auf die Messe fortgelassen wurden. Gleichzeitig mit dem ersten Messbuch wurde ein (wenn auch in anderer Werkstatt) Graduale gedruckt, mit einer Fülle von schwedischen Sequenzen. Auffallend ist, dass Messbuch und Graduale im Kalendarium nicht übereinstimmen, wodurch sich die Frage stellt, für welche Diözese es Verwendung finden sollte? Einerseits ist es kaum denkbar, dass ein solch wertvolles Buch nicht für Uppsala bestimmt gewesen sein sollte, andererseits kann es auch nicht sein, dass in der Kathedrale zwei auffallend divergierende Kalender verwendet wurden. Im Vergleich mit regionalen Messbüchern stimmt der Kalender des Graduale am ehesten mit der Diözese Västeras überein. Noch war die Liturgie Skandinaviens nicht vereinheitlicht. Dies wäre erst mit dem Tridentinum erreicht und dann durch die Reformation auch sogleich wieder zerschlagen worden. Die einzelnen Diözesen hatten am Ende des Mittelalters ihre Eingentraditionen voll entwickelt. Liturgie wurde wie Architektur im Mittelalter von Generation zu Generation aufgebaut. Mit Brüchen und Weiterentwicklungen wie sie architektonisch an allen großen Kirchen zu finden sind.


Das Uppsalamissale war ein Kompromiss zwischen den älteren Liturgien und der neueren Dominikanerliturgie. Es gab einen erneuerten Heiligenkalender, eine Beibehaltung der älteren Leseordnung, sowie einige ältere Orationen. Es findet sich die schwedische Eigenart der Allelujarufe. Anstelle der üblichen Bezeichnung Sonntage nach Pfingsten findet sich die regionale Eigenart (wie in Köln) von den Sonntagen nach Trinitatis zu sprechen. Insbesondere die Zeit im Jahreskreis fand einen ganz eigenen Ausdruck, welcher sich nicht auf ausländische Vorgaben rückführen lässt. Das Trinitatisfest war, wie das Fronleichnamfest erst hochmittelalterlich hinzugefügt worden. Während es in Rom die Zählung der Sonntage nach Pfingsten nicht veränderte, drückte die schwedische Zählung nun jedoch die Zählung einen Sonntag weiter. Sodass die römischen Texte vom zweiten Sonntag nach Pfingsten in Schweden am zweiten Sonntag nach Trinitatis erklangen (usw). Während Uppsala eine starke französische Tradition übernahm, konnten sich in anderen Diözesen die alten britischen oder auch norddeutschen Traditionen halten (z.B. Strengnäs). Auch in Lund konnten sich deutsche Traditionen (Heiligenkalender und Architektur) halten. Eine besondere Situation findet sich in der Diözese Lingköping. In diesem Bistum gab es Ende des 15. Jahrhunderts so große Finanzprobleme, verursacht durch den teuren Domneubau, dass offensichtlich kein Geld für die Anschaffung neuerer und einheitlicher (gedruckter) liturgischer Bücher vorhanden war, sodass liturgiegeschichtlich die Zeit hier, in den Jahren vor der Reformation, stehen geblieben war. So stehen sich hier englische, deutsche und französische Traditionen ungebrochen gegenüber.

Literatur: Die schwedischen Missalien des Mittelalters Von Gustav Lindberg (Uppsala 1923) https://archive.org/details/dieschwedischenm00lind


Spiritualität

Aufrecht vor Gott stehen

von Pater Gerhard Seidler


Die Frage, die am Anfang der Apostelgeschichte (1,11) an unschlüssige Jünger mit der Absicht gestellt wird, sie aus einer Verzücktheit in die Realität dieser Welt zurückzuholen, könnte auch an eine Frau gerichtet werden, deren Bild und Erscheinung in einer der Katakomben Roms entdeckt worden ist: „Was stehst du da und schaust zum Himmel empor?“


Da steht sie in einem langen Kleid, den Kopf mit einem Tuch bedeckt, das vorn über ihre linke Schulter hängt. Ihr junges, von Verzückung und heiterem Ernst geprägtes Gesicht hat portraithafte Züge. Die großen Augen konzentriert und voller Erwartung nach oben. Ihre Arme sind ausgebreitet und leicht aufwärts gehoben, ihre leeren Hände sind mit der Innenfläche nach oben geöffnet. Die Frau repräsentiert die Orante-Haltung (lat. orare = beten, bitten). Kaum eine Gestalt wurde in den Katakomben so oft dargestellt wie die Orans, die mit erhobenen Händen Betende. Bei den nichtchristlichen Römern findet man eine ähnliche Figur auf Sarkophag-Reliefs, auf Gefäßen und Münzen. Ihr Name ist Pietas, und das bedeutet: Frömmigkeit, genauer gesagt: pflichttreues Verhalten gegenüber Gott und Mensch.


Das Stehen vor Gott ist eine Haltung der Frömmigkeit, die biblisch verwurzelt ist. In der Apostelgeschichte ist auch das Knien mehrfach bezeugt, oft aber wird man sich die Betenden besser stehend vorstellen. Wer kniet, macht sich klein. Das kann eine Haltung der Demut, der Anbetung und der Einsicht in die eigene Begrenztheit sein. Es kann aber auch Unterwürfigkeit, Servilität und Unterdrückung, ja sogar Versklavung ausdrücken. Aufrechtes Stehen mag als Hochmut und Stolz gedeutet werden, kann aber auch die Haltung eines gesunden Selbstbewusstseins und einer Erfahrung der Befreiung sein, Ausdruck der Würde, des Wohlbefindens und der Bereitschaft, sich hinter etwas zu stellen oder für etwas einzustehen. Der Psalmendichter ermuntert: „Lobet den Namen des Herrn, lobt ihn ihr Knechte des Herrn, die ihr steht im Hause des Herrn … erhebet eure Hände und preist ihn!“ (Ps 134,1f; 135,1f). „Stehen“ bedeutet da „bereit sein“, auf jeden Wink des Herrn unverzüglich zu reagieren und seinen Willen zu erfüllen. Wer sich erhoben hat, „ist wach, aufmerksam, gespannt. Denn wer steht, kann auf und davon gehen; kann ungesäumt einen Auftrag ausführen; mit einer Arbeit beginnen, die ihm zugewiesen wird. Das ist die andere Seite der Ehrfurcht vor Gott. Im Knien war es die anbetende, in Sammlung verharrende; hier die wache, tätige“ (Romano Guardini).


„Wir danken dir, dass du uns berufen hast, vor dir zu stehen und dir zu dienen“, betet der Vorsteher der Eucharistiegemeinde. Um das Evangelium würdig aufzunehmen, erheben sich die Anwesenden. Oft ist es Inhalt der Frohen Botschaft, dass das geknickte Rohr nicht abgebrochen, sondern aufgerichtet wird (Jes 42,3).


Zum Gelähmten sagt Jesus: „Steh auf … und geh!“ (Mk 2,11). Der gekrümmten Frau legt er die Hände auf. Im gleichen Augenblick richtet sie sich auf und preist Gott (Lk 13,12f). Das Fresko mit der aufrechtstehenden Frau befindet sich in einer Grabkammer und ist vermutlich das Portrait einer Verstorbenen, die darunter begraben liegt. Das Bild ist ein Bekenntnis der Hoffnung: Gott sagt, wenn ich sterbe, steh auf! Die aufrechte Haltung mit den verlangend erhobenen Händen weist über die Betende hinaus in eine neue Dimension und sucht zuversichtlich die Begegnung mit dem Gott des Lebens. Mich erinnert diese Frau an die erste Seligpreisung der Bergpredigt: Selig, die arm sind vor Gott, selig, die mit leeren Händen vor Gott stehen, denn ihnen gehört das Himmelreich (Mt 5,3). Mit anderen Worten: „Geht nicht mehr geduckt. Gott will den aufrechten Gang. Freut euch, die Feier des Lebens ist gekommen.“ (Hans Rudolf Hilty)





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