Zeitschrift für Theologie, geistliches Leben und christliche Kultur
Zur Soziologie des Katholizismus
Warum der Reformbegriff allzu verführerisch ist
Von Klaus Mass
Mit dem Begriff der Reform - der kirchlichen Erneuerung - kann eigentlich jeder etwas anfangen. Die einen verstehen darunter die Wiederherstellung einer angeblich glorreichen Vergangenheit, die anderen verbinden mit dem Schlagwort die Realisierung einer hoffnungsfrohen Zukunft. Wer wollte widersprechen, die Ekklesia ist eine semper reformanda, eine stets zu erneuernde Gemeinschaft. Der allergrößte Vorteil einer jeden Reformdebatte ist, dass man vor allem mit der Gegenwart so richtig unzufrieden sein kann. Als theologischer Begriff ist Reform immer ein Blick in den Rückspiegel. Das, was im Laufe der Zeit deformiert wurde, gehört, wie in einer Autowerkstatt wieder gerichtet. Am besten so wie es mal war. Vielleicht dem Geschmack der heutigen Zeit etwas angepasst? Oder sogar, auf der Höhe der Zeit, den anderen technisch voraus?
Wer also den Begriff der Reform benutzt, sagt damit noch gar nichts aus. Der Erneuerungsbegriff wird erst greifbar, wenn er auch mit einem bestimmten kirchlichen Ausgangspunkt verbunden wird. Natürlich nicht in ferner Vergangenheit, sondern in der konkreten kirchlichen Soziologie der Gegenwart.
Und hier scheint es, wie in einem Koordinatensystem, gegenwärtig bezogen auf das zweite Vatikanische Konzil, vier Räume zu geben.
Den ersten Raum bezeichne ich als den antikonziliaren Raum. In diesem Raum versammeln sich Menschen, welche das zweite Vatikanum, oder zumindest dessen Umsetzung als Fehler betrachten. Es sind Menschen, welche die tridentinische Liturgie bewahren wollen, den ökumenischen und interreligiösen Dialog ablehnen. Menschen, die ein kirchliches Ideal in der Zeit der Piuspäpste zwischen 1850 – 1950 sehen, die sich als Bewahrer des ersten Vatikanums, des Kirchenrechts von 1917, sowie des Antimodernismus empfinden. Helden dieses Raumes sind Menschen wie Marcel Lefebre, welche sich der nachkonziliaren Entwicklung entgegen- gestellt haben.
Den zweiten Raum bezeichne ich als den konziliaren Raum. In diesem Raum versammeln sich Menschen, die das zweite Vatikanum positiv begrüßen und das Konzil als richtige und notwendige Entwicklung aus der liturgischen, biblischen und auch sozialen Bewegung der vorkonziliaren Kirche heraus bewerten. Während es sich beim ersten Raum um einen sehr kleinen Raum handelt, ist der konziliare Raum der größte der vier. Es ist der Raum des „Mainstreamkatholizismus“, in dessen Mitte es einen Raumteiler gibt, welcher konservative und progressive Raumbesucher voneinander scheidet. Helden dieses Raumes sind nahezu alle Päpste und Bischöfe, die es seit dem Konzil gegeben hat. Die Helden haben das Konzil in der Messbuchreform von Paul VI, im Kirchenrecht und im Katechismus von Johannes Paul II grundsätzlich gut umgesetzt und beendet.
Beim dritten Raum handelt es sich wahrscheinlich um den mittlerweile kleinsten, er ist von fast ausschließlich älteren Semestern bevölkert. Es ist der postkonziliare Raum. Hier versammeln sich Menschen, die das zweite Vatikanum in ihrer Jugend als befreienden und erfrischenden Aufbruch erlebt haben, die das Konzil mit der Würzburger Synode, der Befreiungstheologie und den Basisgemeinden weiterführen wollen. Die Helden dieses Raumes sind Hans Küng, Eugen Drewermann oder Leonardo Boff. Es sind Menschen, die sich an der Amtskirche abgearbeitet haben und, sofern sie überhaupt noch leben alt geworden sind.
Schließlich der vierte Raum, welchen ich als praekonzilaren Raum bezeichnen möchte. In diesem versammeln sich nicht selten jüngere Menschen, die eigentlich gar nicht mehr wirklich auf das Vatikanum II zurückblicken, es als Geschichte längst abgehakt haben. Es sind Menschen, die die ewigen innerkirchlichen Kontroversen satt sind und die Zukunft im Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung, in der Solidarität mit den Migranten, oder auch in einer neuen Sicht der alten Geschlechterrollen sehen. Wirkliche Helden dieses Raumes gibt es noch nicht, doch die Enzykliken und Schreiben von Papst Franziskus dürften nicht selten in diesen Raum hineinsprechen.
Antikonziliar Konziliar
konservativ /progressiv
II. Vatikanum
Postkonziliar Praekonziliar
Wie das in allen Häusern üblich ist, wohnen auch die Katholiken nicht nur in einem Raum, sondern nutzen alle Räume ihres Hauses. Jeder hat seine Lieblingsecke und betritt doch hin und wieder auch die anderen Räume. Gerade bei Papst Franziskus kann man sehr gut sehen, wie er durch alle Räume schreitet. Wenn er öfters vom Teufel redet, blicken die Bewohner des ersten Raumes auf, die Beibehaltung des Zölibats, oder die Ablehnung der Frauenordination entspricht den konservativen Mainstreamern. Viele seiner Äußerungen entsprechen den progressiven Mainstraemern. An nicht wenige Bewohner des postkonzilären Raumes hat er positive Signale der Versöhnung gesandt. Und schließlich inspiriert er die Bewohner des letzten Raumes mit seinem Einsatz für die Umwelt und die Ausgegrenzten zu neuen Aufbrüchen. Je nachdem, ob man die Kirche aus deutscher, westlicher oder globaler Perspektive betrachtet, wirken die einzelnen Räume des Hauses unterschiedlich groß und belebt. Und je nachdem in welchem Raum mein Schreibtisch steht, werde ich mit dem Begriff der kirchlichen Reform ein ganz anderes Kirchenbild konstruieren.
Kardinal Kasper nennt theologische Kriterien für kirchlichen Reformprozess
Das Evangelium überrascht immer wieder
In einen Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. April äußerte sich der Kardinal zur Frage nach den theologischen Kriterien für den kirchlichen Reformprozess. Die Kirche befindet sich, zumindest in der westlichen Welt, in einer Krise der Glaubwürdigkeit. Es gibt keine andere Möglichkeit diese Krise erfolgreich zu bestehen, als sie denn als Chance zur kirchlichen Erneuerung zu begreifen. Diese Chance wäre allerdings vertan, wollte man einfachhin alles, was alt ist, oder Ecken und Kanten habe, schleunigst über Bord werfen. Eine abgeschliffene Kirche wäre nicht attraktiv, sondern bedeutungslos. Der christliche Glaube dürfe nicht zu einer vagen Religiosität verdunsten. Auch eine erneuerte Kirche müsse Stachel im Fleisch der Gesellschaft bleiben.
Das Evangelium stehe für konkrete und verbindliche Inhalte, es ist die Botschaft des Gekreuzigten und Auferstandenen, der zur persönlichen Umkehr rufe. Die Erneuerung der Kirche könne daher nicht bei gesellschaftlichen Forderungen, sondern nur im Ruf zur Evangelisierung ansetzen. Die Tradition sei ein Schatz, den es aktiv an die nächste Generation weiterzugeben gelte, daher sei es unzulässig einen sogenannten „Futuro-Katholizismus“ gegen einen „Retro-Katholizismus“ ausspielen zu wollen. Begriffe wie „Zukunftsfähigkeit“ oder „Anschlussfähigkeit“ sind reine Worthülsen und besagen eigentlich nichts. Das ein für alle Mal ergangene Evangelium ist allerdings niemals ausgeschöpft, es muss stets neu entdeckt werden. „Und wir müssen bereit sein, uns stets neu in seine ganze Wahrheit einführen zu lassen.“
Im Folgenden nennt der Kardinal theologische Kriterien, mit denen dies möglich sei: „Indem wir die Einheit von Altem und Neuem Testament in typologischer Auslegung neu entdecken, die Regeln der Unterscheidung der Geister beachten, uns an die „loci theologici“ (Schrift, Väter, Liturgie, Konzilien und den Glaubenssinn des Gottesvolkes) halten.“
Als theologischer Führer durch die Reformdebatte könnte John Henry Kardinal Newmann hilfreich sein. Seine Prinzipien waren „Erhaltung des Typos“, „Kontinuität des Prinzips“ und „fortdauernde Lebenskraft“, wobei Diskontinuitäten nicht aus-, sondern einzuschließen seien.
Zum Begriff der Inkulturation merkt Kasper an, dass neue Kulturen im Gegensatz zu Schrift und Tradition keine Träger der Offenbarung sind, es sei vielmehr so, dass die Kulturen durch das Evangelium durchsäuert und gereinigt werden müssen, dann erst können sie in ihrer Vielfalt die Kirche bereichern.
Letztlich komme es bei allen kirchlichen Reformen stets auf den Konsens, nicht nur der Theologen, Kommissionen und Synoden, sondern der ganzen Kirche, insbesondere auch der Laien, an. Als konkrete Reformthemen nennt Kasper einerseits die „Lehre von der Unfehlbarkeit“ neu zu durchdenken und andererseits das „synodale Zusammenwirken von Amts- und Laiendiensten dem Evangelium gemäß auszugestalten“.
Unser Reden von Gott als dem Schöpfer „aller Ding“ – eine Annäherung an die Schöpfungstheologie
Von Gerhard Seidler
Hey! Aufgepasst! Vor-Sicht! Eine neue Begrifflichkeit erobert das angeblich „postchristliche Zeitalter“: ACHTSAMKEIT als Einstieg – acht-geben, achthaben, achtsam sein. Für manche mag dies ein seltsamer Einstieg in das angedachte Thema sein, aber irgendwie passt es doch. Es ist unsere freie Antwort auf das, was sich in, durch und mit der Schöpfung ereignet hat und immer neu geschieht. Die ACHT – liegend ein Kürzel und Zeichen für Unendlichkeit und damit auch für Ewigkeit. Bewusst sein -Bewusst leben: Verantwortungs-voll-leben... all das und vieles mehr schwingt in diesem Wort mit. „Obacht“ – bedacht ... „Obacht-geben“ kann nur einer, der einiges über sich selbst weiß. Also meint Selbsterkenntnis – erkenne dich selbst und gehe deinen Weg. Bei Wikipedia liest man: „Achtsamkeit (engl. mindfulness) ist ein Zustand von Geistesgegenwart, in dem ein Mensch hellwach die gegenwärtige Verfasstheit seiner direkten Umwelt, seines Körpers und seines Gemüts erfährt, ohne von Gedankenströmen, Erinnerungen, Phantasien oder starken Emotionen abgelenkt zu sein, ohne darüber nachzudenken oder diese Wahrnehmungen zu bewerten. Achtsamkeit kann demnach als Form der Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit einem besonderen Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand verstanden werden, als spezielle Persönlichkeits-eigenschaft sowie als Methode zur Verminderung von Leiden.“ Ein zweiter Aspekt: Die Evolution, die Viren und Gott – aktueller geht es fast nicht! Und noch mal: Es geht nicht anders. Wir müssen mit einer „Setzung“ beginnen. Gott hat uns nicht nur als freie Wesen, sondern auch als vernünftige Geschöpfe gewollt, die in der Lage sind, seine Schöpfung und die Geschehnisse darin ansatzweise zu ergründen. Die Erfolge der Wissenschaften, der Medizin, der Technik sind Hinweise dafür. Gott schafft eine Welt, die ein vernünftiges Geschöpf „verstehen“ kann. Er hat, so ein momentaner Erkenntnisstand, diese Welt als ein sich entwickelndes Universum geschaffen, das je weiter und tiefer wir vordringen, umso „unaussagbarer und geheimnisvoller“ wird. In diesem Entwicklungsprozess des Alls sind unter anderem, als eine der jüngsten Erscheinungsformen, wir Menschen entstanden. Der Fortschritt der Evolution und die Schöpfung durch Gott sind ein und dasselbe, stellt der Münsteraner Philosoph Jörg Phil Friedrich fest. Der Mensch als verständiges und schöpferisch tätiges Geschöpf ist in der Lage zu verstehen und selbst an dem mitzuwirken, was er verstanden hat. So wird vielleicht auch vorstellbar, dass das, was wir Viren nennen, in der Schöpfung eine Funktion hatte und hat, damit die „Welt“, wie wir sie kennen, so entstehen konnte wie sie heute ist. Gott liebt seine ganze Schöpfung, nicht nur den Menschen, ja, Gott liebt demzufolge auch die Viren und sonstigen Biester die „uns“ das Leben so schwer machen. Uns Menschen hat dieser liebende Gott die Fähigkeit gegeben, nicht stumpf und unverständig nur zu leiden, sondern dem Leid aktiv zu begegnen. Uns hat er mit Vernunft begabt, zu verstehen, wie wir uns vor Viren und anderen „Tieren“ schützen können. Und er hat uns Fähigkeiten gegeben, das Leid anderer zu mildern und erträglicher zu machen: Er hat uns mit Empathie, mit gegenseitiger Zuneigung, mit der Fähigkeit zur Hilfsbereitschaft versehen. So ein Gott meint es wirklich gut mit uns! Leid, ob durch Katastrophen oder durch Menschen verursacht, ist unvermeidliche Konsequenz der Freiheit, die ein liebender Gott der ganzen Schöpfung und damit auch uns gewährt (Prof. Dr. Gerhard Haszprunar). Eines muss uns bei all dem Reden, Schreiben und Denken klar sei: Genauso wenig wie Gott mit Begrifflichkeiten und Bildern „dingfest“, beschrieben werden kann ist auch SEINE Schöpfung im Urgrund unaussagbar, unbegreiflich. Was meint Unendlichkeit, was meint Ewigkeit? Gott als „Horizont des Ganzen der Welt“ ist eben kein „Etwas“ oder „Jemand“. Je näher wir dem Ausgangspunkt und Urbild kommen, desto geheimnisvoller wird es. Angesagt und angedacht ist eine Zeit des sich Wunderns und des Staunens.
Und Gott schuf nicht nur den Erdling. Eine dritte Facette des Seins
„Einmal wird auch die Geduld der Biber enden...“ schreibt Hans Magnus Enzensberger (1929 in Kaufbeuren geboren) schon im Jahr 1960. Nach ihm findet sich Genialität nicht vor allem in vom Menschen Geschaffenen. „Beim Anblick der heiteren, unübertroffenen Eleganz des Löwenzahns bleibt nur festzustellen: Nie im Leben, liebe Nobelpreisträger, gebt es nur zu, hättet ihr so etwas erfunden.“ Mit ihm können wir uns anschließen an der Kritik der Zeit der menschlichen Allesmachbarkeit, dem Anthropozän. Aber Achtung, es gibt ihn nicht: DEN Menschen. Da klafft die Schere auseinander nicht nur zwischen Menschen und Natur, sie zerschneidet auch im Menschlichen selbst. Wer ist/war dieser Mensch, dieses „Modell eines Menschen“ in dieser nur auf ihn hin ausgerichteten Betrachtungs- und Denkweise der ganzen Schöpfung? Wenn wir von unserem Kulturkreis ausgehen, ist es der weiße Mann der nördlichen Hemisphäre. Alles andere fällt durch das Denkschema. Langsam und sehr mühsam ist der Mensch dabei dies zu übersteigen. Auslöser für diesen Ausstieg sind weltumspannend zu registrieren: Geringachtung und Missachtung der Afroamerikaner und die öffentliche Reaktion der Gebrandmarkten in Nordamerika und Frankreich...; gnadenlose Willkür gegen Uiguren in China, Entzug der Lebensgrundlagen der indigenen Bevölkerung im Amazonasgebiet, sublime Verachtung von Sinti und Roma allüberall in Europa, religiöse Willkür und Allmachtphantasien rund um den Globus. ... Doch dieses Defizit wird noch überstiegen mit unserer Verantwortung mit der ganzen Mitschöpfung, mit allem sonstigen geschöpflichen wesenhaften Sein. Immer mehr macht das Bewusstsein breit, dass wir nur als Mitgeschöpfe mit allem nichtmenschlich Geschaffenen lebensfähig waren und bleiben. Bei der momentanen Diskussion um Klima und Tierrechte, über Wasserrechte und die Bewahrung der Schöpfung geht es nicht in erster Linie um das Überdauern der menschlichen Spezies (denn Gott sah: ... es war gut, es war sehr gut!) ES, das Leben, alles Leben und Existieren hat seinen unbestreitbaren Selbstwert. Gerade im theologischen Denken geht es um der Glaubwürdigkeit willen darum, Lehre und Praxis miteinander zu verschränken, um so eine Strahlkraft zu entwickeln, die vom Lob der gesamten Schöpfung singt. Und die Orthodoxie, die „Lehre“, muss, damit sie nicht zur „Leere“ degeneriert, offen sein für das, was die Lebenswirklichkeit JETZT, hier und heute als wahr aufweist. In unserem Denken, Reden und Tun sollte/müsste/könnte also deutlich werden, dass wir (alle) in einem Boot sitzen. Der Mensch hat sich nicht trotz der nichtmenschlichen Mitwelt und entgegen dieser entwickelt, sondern ausschließlich mit und in Abhängigkeit von ihr. Dies aber sollte sich auch in unserer Sprache widerspiegeln. Wesentlich ist, dass wir verstehen: Wir sind Erdlinge, als Mann und Frau Ebenbild Gottes, und gerade so in die Schöpfung, das Sein von allem Anfang an eingebunden. Biblisch Schöpfung gedacht: Ein Aufschrei gegen das Leid. Elisabeth Birnbaum stellt den ersten Schöpfungsbericht (Genesis 1,1-2,3) in den Zusammenhang mit dem drängenden Problem der „Schöpfungsverantwortung“ und einer grundlegenden Frage nach der Verlässlichkeit der Welt angesichts der „modernen Katastrophen“ die unseren wirtlichen Planeten Erde heimsuchen und mit Desorientierung und Leid verheeren. Im späten 6. Jahrhundert vor der Zeitenwende verfasst, in und nach dem babylonischen Exil ist alles, was Israel ausgemacht hat praktisch genichtet: der Tempel – zerstört, die Priester und Oberen – verschleppt. Offenbar sind andere Gottheiten mit mehr Macht gesegnet denn JHWH. Die Exilanten müssen um ihre Identität ringen. Und gerade hier, in dieser Zeit der Unsicherheit und Verwirrung in chaotischer Zeit, entsteht einer der kühnsten und hoffnungsfrohsten Weltentwürfe der Geschichte. Gott spricht – und es geschieht, was er gesagt. Das Chaos wird verdrängt, nicht vernichtet. Das Ungeordnete wird verbannt. Friedliche Souveränität Gottes bricht sich Bahn. Literarisch gesehen! Auch kann er es sich sogar leisten, nach getanem Werk zu ruhen. Kein größerer Kontrast ist denkbar. Der „große Leidende“ des Ersten Bundes kommt dabei auch noch ins Blickfeld: Ijob. Weit hinten im Text, im Kapitel 38, spricht Gott „persönlich“ mit Ijob. Aber warum Ijob leidet, ist schlichtweg uninteressant. Gott antwortet nicht. Er stellt Fragen. Keine Antwort auf die Fragen nach dem „Warum“. Eins aber ist wichtig, auch, und gerade für uns Heutige: Gott gibt die Gewissheit zurück, dass er es trotz allem Unverständlichem, Schrecklichem und Beängstigendem gut meint mit der Welt. Er schenkt ihm, Ijob und auch uns, das Staunen über die Größe dieser Welt und ihres Schöpfers.
Letztlich: Die Sprache der Schöpfung als Versuch
Im Begriff „Schöpfung“ finden wir eine umfassende, alles um- und erfassende Benennung, die das eingangs genannte Moment der Achtsamkeit in sich birgt, von Anfang an. Kein Name bringt besser zum Ausdruck was deren Wesen ausmacht. Denn „Natur“ wird oft als Kontrast zu „Kultur“ gesehen. Schöpfung umfasst beides.
Das Wort, wie wir es heute buchstabieren und aussprechen lautet JAHWE. Es wird im Hebräischen als das heilige Tetragramm JHWH (Jod, He, Waw, He) geschrieben und war für Juden ein buchstäblich unaussprechliches Wort. Jeder Versuch diesen Namen zu entschlüsseln war „unnütz“, wie es das Gebot ausdrückt. Stattdessen las man immer da, wo im Hebräischen das Tetragramm stand, ELOHIM (den Gattungsbegriff für Gott) oder ADONAI (was Herr meint). Die göttliche Identität blieb und BLEIBT von Gott her gesehen geheimnisvoll verschleiert und dem Verstand unzugänglich. Als Moses nach dem Namen der Gottheit fragte, empfing er eine Formulierung, die man in etwa übersetzten könnte: ICH BIN DER ICH BIN. ICH BIN DER, DER DA IST FÜR DICH. ICH BIN DER, DER FÜR DICH IN DEINER GESCHICHTE WIRKSAM IST. „Dies ist für immer mein Name, mein Titel für alle Generationen.“ Diese Unaussprechlichkeit des Gottesnames ist schon lange bekannt. Aber inzwischen wissen wir, dass das Ganze noch einen wesentlich tieferen Grund hat. Letztlich wurde das Wort überhaupt nicht gesprochen, sondern es wurde geatmet! Viele Experten sind überzeugt, dass die korrekte Aussprache der Versuch ist, den Klang des Ein- und Ausatmens zu repetieren und zu imitieren. Das, was wir in jedem Augenblick unseres Lebens tun, nämlich atmen, bedeutet demzufolge nichts anderes als den Namen Gottes auszusprechen, ob wir es wissen oder nicht. So wird ER zu unserem ersten und letzten Worte wenn wir die Welt betreten und wieder verlassen (nach Richard Rohr, Pure Präsenz).Im Judentum und in den christlichen Religionen begegnet uns das wirkmächtige und immer achtsame Wort (dort im Tanak bei uns in der Bibel). Hier nun bei Johannes 1,1-5, zitiert nach Fridolin Stier:
„Im Uranfang war ER, das Wort / Und ER, das Wort war bei Gott / Und Gott war ER, das Wort. Der war im Uranfang bei Gott. / Alles ist durch IHN geworden, / und ohne IHN geworden ist nicht eines. / Was geworden, war Leben in ihm. / Und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis / Und die Finsternis ergriff es nicht.“
Eine Textübertragung, die alles bislang Bekannte übersteigt und zum Nach-Denken anregt. Eine „Üb-Er-Setzung“, die darauf hinweist, wie mächtig das Wort, der Logos, ist. Gott wird Mensch, auf dass der Mensch vergöttlicht werde! Für Meister Eckhart ist die Menschwerdung Gottes kein einmaliges Ereignis: „Der Vater gebiert seinen Sohn ohne Unterlass [...] Er gebiert mich als seinen Sohn und als denselben Sohn“ (Deutsche Predigten und Traktate, Herausgegeben und übersetzt von Josef Quint, 1963, 7. Auflage S. 185). Gott sei nicht nur „dort“ – als Jesus von Nazareth – Mensch geworden, sondern „hier wie dort“, „und er ist aus dem Grunde Mensch geworden, dass er auch dich als seinen eingeborenen Sohn gebäre und als nicht geringer“ (ebd. S. 185). In allen Religionen begegnet uns ähnliches: eine Schöpfungserzählung. Zahlreich und vielfältig sind die Erfahrungen mit Gott und seiner Schöpfung, die Menschen seit urdenklichen Zeiten überliefert haben. Die Gedichte, Mythen, Geschichten sind Zeugnisse des Fragens, des Staunens, des Lobes und der Klage. Alle öffnen sie die Augen und Ohren für Gottes Schöpfung, für die Sprache seiner Schöpfung. Und achtsam buchstabierten wir jedes Wort und verkosten es.
Im ersten Schöpfungsbericht der Bibel lesen wir (Gen 1,1ff): Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut. Gottes Geist (Ruach) schwebte (brütete) über dem Wasser. Das erste Tagewerk besteht darin, dass Gott sprach, es werde Licht. Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Und ER gab „dem Kind“ jeweils seinen Namen. Der zweite Tag: Gott sprach und dann: Gott sah, dass es gut war/ist, das Himmelsgewölbe. Am dritten Tag in gleicher Manier: Land und Meer, Gott sprach und dann: Gott sah ... Am vierten Tag: Gott sprach und dann: Gott sah, ... die Leuchten am Himmel. Ebenso am fünften Tag, an dem er die Wesen des Wassers und der Lüfte erschaffen hat. Der sechste Tag ist für die Tiere des Feldes und den Menschen bestimmt: Dann sprach Gott, „lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. ...Gott schuf also den Menschen als sein Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau (männlich und weiblich) schuf er sie. Gott segnete sie. Gott sprach und dann: Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war / ist sehr gut. Der siebte Tag wird herausgehoben, geheiligt, er dient der Besinnung, der Muße. Und er, der Unaussprechliche segnete den siebten Tag.
Ein mögliches Fazit dieser Herleitung zeigt: Gott ist grün ... Mit Ernesto Cardenal können wir sagen: „Die ganze Schöpfung ist die Schönschrift Gottes.“ Im weiteren Verlauf erfahren wir, dass es nicht so läuft, wie der Schöpfer gedacht hat. Der Mensch sucht aus der Ebenbildlichkeit heraus, das Sein wie Gott und muss das Paradies verlassen, um zu Marktwirtschaft und Co. zum „Immermehr“, zum „Leistungswahn“ zu gelangen. Urfluten werden angesagt und gewirkt, um des Menschen Herz zu erreichen. Die Menschen verlieren die gemeinsame Sprache und müssen mühsam neue Wege und Sprachen lernen. Der Mensch verliert Maß und Ziel, die einfache Regel der Gastfreundschaft und Lots Weib erstarrt zur Salzsäule - weil Sensationslust alles ist und war. ... In den Psalmen dann hören wir: „Du führst mich hinaus ins Weite. Du machst meine Finsternis hell“ (vgl. Psalm 18). Zusammenfassend gilt es festzuhalten: Der Mensch ist nicht allein in der Einöde des Alls. Die Menschheit ist nicht allein mit ihrer Geschichte. Es ist einer da – der, der sie geschaffen hat. Es ist einer da, der in all unserem Tun mit im Spiel ist. Er ist es, der seine Geschichte mit uns eröffnet mit dem Wort: „Lasset uns Adam (das meint „Menschen“) machen, nach unserem Bilde, uns ähnlich“ (Genesis 1,26; Übertragung Fridolin Stier). Weiter erfahren wir: „Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn, männlich, weiblich schuf er sie.“ „Gott sah alles, was er gemacht hatte, und da, es war sehr gut.“ (Genesis 1,27.31; Übertragung Martin Buber/Franz Rosenzweig). Und wir hören auch: „ER, Gott, bildete den Menschen (Adam), Staub vom Acker (adama) und blies in seine Nasenlöcher Hauch des Lebens...“ (Genesis, 2,7; Übertragung Martin Buber/Franz Rosenzweig)
Ein erstes Fazit: Wir Menschen sind Erdlinge: von der Erde genommen und gebildet, von ihr und auf ihr lebend und dorthin kehren wir zurück. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Im Hohenlied (der Liebe) erfahren wir manche Dinge im Zusammenspiel zwischen unserem Schöpfer und uns und von der Wohltat der Schöpfung. Ein Beispiel der Text in 4,12-5.1: „Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell. Dein Schoß ist ein Park von Granatbäumen mit allerbesten Früchten, Zypernblume samt Narde. Narde und Safran, Kalmus und Zimt mit allen Weihrauchbäumen, Myrrhe und Aloe mit allen Balsambäumen. Der Gartenquell ist ein Brunnen lebendigen Wassers, wie es vom Libanon rinnt. Nordwind wach auf, Südwind komm, durchwehe meinen Garten, dass seine Düfte strömen! Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse von seinen allerbesten Früchten! Ich komme in meinen Garten, meine Schwester Braut, ich pflücke meine Myrrhe und meinen Balsam, ich esse meine Wabe und meinen Honig, ich trinke meinen Wein und meine Milch. Esst, Freunde, trinkt, und berauscht euch an der Liebe“ (Wenn der mich doch küsste. Das Hohe Lied der Liebe. Übersetzt und erklärt von Herbert Haag und Katharina Ellinger).
„Alles wird gut sein und alle werden gut sein, und aller Art Dinge wird gut sein“ ... eine Vorahnung unseres Weges mit und in der Schöpfung, die Juliana von Norwich (1342-1413?) wortstark in unser christliches Sein hineinspricht!
Zu Paulus, der nicht fehlen darf. In seinem Brief an die Römer (8,18-22) lesen wir: „Geschwister, ich bin ganz sicher, dass alles, was wir zur Zeit erleiden, nichts ist, verglichen mit der großen Herrlichkeit, die Gott uns einmal schenkt. Darum wartet die ganze Schöpfung sehnsüchtig und voller Hoffnung auf den Tag, an dem Gott alles in diese Herrlichkeit aufnimmt. Ohne eigenes Verschulden ist alles Geschaffene der Vergänglichkeit ausgeliefert, weil Gott es so verfügt hat. Aber er hat seinen Geschöpfen die Hoffnung gegeben, dass sie zusammen mit den Kindern Gottes einmal von Tod und Vergänglichkeit erlöst und zu einem neuen, wunderbaren Leben befreit werden. Wir sehen ja, wie die ganze Schöpfung leidet und vor Schmerzen stöhnt – wie eine Frau in den Geburtswehen -, bis eine neue Welt geboren ist.“
Seufzen, Stammeln und Stöhnen ist angesagt, ACHTSAM LEBEN vor dem, was uns da gegeben wurde. Wie werden wir es richten? Leise im Windhauch, machtvoll wie Sturmesbraus – die Stimme der Schöpfung. Sie zeigt uns auch dass wir immer in einem dreifachen Beziehungsgeschehen leben: Ich – du – wir // Körper – Seele – Geist // Vater – Sohn – Geist (Ruach).
Nikolaus von Myra, Martin von Tours und die Benediktregel buchstabieren die Sprache der Schöpfung je neu. Walafried Strabo, Abt des Klosters auf der Reichenau, Karl der Große, Konstantinus der Afrikaner sind mit dabei um dies zu tun. Hildegard von Bingen und Franz von Assisi sind Lichtgestalten des Schöpfungsdenkens ihrer Zeit. In der Benediktregel erfahren wir Grundlegendes. Aus ihr lässt sich folgern: Es geht um die Erkenntnis, dass das rechte Maß die Mitte aller Dinge, allen Seins ist.
Hildegard von Bingen (1098-1179) liebt und lebt der „Grünkraft“, das ist für sie die Sprache der Schöpfung, der Lebensenergie schlechthin: „O edles Grün, das wurzelt an der Sonne und leuchtet in strahlender Helle im Rund eines kreisenden Rades, du rötest im Morgenlicht und flammst in der Sonne Glut. Aus lichtem Grün sind Himmel und Erde geschaffen und all die Schönheit der Welt. Die Erde trägt dieses Grün in sich. Es lebt in der Flamme, schillert in den Gewässern, feuchtet im Stein und weht in der Luft. Es ist die Kraft allen Leben.“ (Physica, Vorwort) GOTT IST GRÜN! Die hier zitierten Texte weisen auch eine intensive Nähe zu bestimmten Schriften der Essener auf, die Jesus, dem Christus zugesprochen werden. Grün ist normal, eine völlig unaufdringliche Farbe. Grün ist unproblematisch und signalisiert den Alltag. Wenn nichts besonderes los ist, ist alles „im grünen Bereich“. Grün sind die Zweige des Christbaums. Zu Weihnachten wird immer wieder neu die Hoffnung gepflanzt, dem folgt die Zeit der aufgehenden Saat. Das neue Jahr beginnt: noch „grün hinter den Ohren“ braucht es Zeit zu reifen. Grün macht Mut. Ein Neuanfang ist möglich. Wünsche, Träume und Pläne, Vorsätze und Ideen können keimen: Neues Leben entfaltet sich und wächst. Grün schaltet auf „freie Fahrt“, grünes Licht heißt: in Betrieb. Frische und Natürlichkeit zeigen sich in dieser Hoffnungsfarbe, jährliche Erneuerung und Heilung: Grünkraft fördert die Konzentration auf das Wesentliche, schärft den Blick, ohne ihn anzustrengen und einzuengen. Grün sorgt für Ausgeglichenheit, besänftigt und gibt Frieden. Grün bringt Natur und damit auch den Menschen zum Blühen. Grün leben heißt: Schöpfung bewahren, bewusst und achtsam leben und immer Hoffnung haben.
Ein Zeitgenosse der Hildegardis, Bernhard von Clairvaux (1090-1153), schreibt in unserem Zusammenhang von der „Eitelkeit der Welt“: „Mensch! Was soll dein Überheben! Schwankendes Rohr nur ist dein Leben, jetzt noch frisch, dann faules Laub. Denk, was bist du, wirst du werden, kaum noch Blume, dann zu Erden wie ein winzig Häufchen Staub. Durch der Jahre flüchtig Jagen wirst stets rascher du getragen zu des Daseins Schluss hinab. Wie ein Schatten der vergehet, drängt das Leben und verwehet. Und sein Endziel ist das Grab. Welch ein schweres Los hinieden, hat uns Armen doch beschieden der Natur so hart Gebot! Weinend kommt der Mensch ins Leben, Kampf und Sorgen hingegeben, und er stirbt in Furcht und Not. Und du, wie dein Los beschaffen, ... Nimmer darfst du es vergessen, dass du stirbst und dann gemessen wird, was du gesäet hier. Erde hegst du, Erde pflegst du, und zur Erde wieder trägst du, Erde, dich, der Erde Raub. Sieh! Was bist du, wirst du werden, kaum noch Blume, dann zur Erden als ein winzig Häufchen Staub.“
Franz von Assisi (1181/82-1226) hat einen berühmten Hymnus verfasst, der die Sprache der Schöpfung aufklingen lässt, der nicht in Wunden bohrt, der wohl um sie weiß und der das Freie der Kinder Gottes ins Wort fasst: seinen Sonnengesang:
Laudato si, o mio Signore, laudato si.
Sei gepriesen für Licht und Dunkelheiten!
Sei gepriesen für Nächte und für Tage!
Sei gepriesen für Jahre und Sekunden!
Sei gepriesen - denn du bist wunderbar, Herr!
Sei gepriesen für Wolken, Wind und Regen!
Sei gepriesen - du lässt die Quellen springen!
Sei gepriesen - du lässt die Felder reifen!
Sei gepriesen - denn du bist wunderbar, Herr!
Sei gepriesen - du lässt die Vögel kreisen!
Sei gepriesen, wenn sie am Morgen singen!
Sei gepriesen für alle deine Tiere!
Sei gepriesen - denn du bist wunderbar, Herr!
Sei gepriesen denn du, Herr, schufst den Menschen
Sei gepriesen - er ist dein Bild der Liebe!
Sei gepriesen für jedes Volk der Erde!
Sei gepriesen - denn du bist wunderbar, Herr!
Sei gepriesen - du selbst bist Mensch geworden!
Sei gepriesen für Jesus, unseren Bruder!
Sei gepriesen - wir tragen seinen Namen!
Sei gepriesen - denn du bist wunderbar,Herr!
Sei gepriesen, o Herr, für Tod und Leben!
Sei gepriesen - du öffnest uns die Zukunft!
Sei gepriesen, in Ewigkeit gepriesen! Sei gepriesen - denn du bist wunderbar, Herr!
Die Sprache der Schöpfung ist grün und voll Achtung für alles Geschaffene. Die Grünkraft ist ihr Lebens- und Sprachprinzip. Erdverbunden und himmelwärtsstrebend können wir leben. Vor allem dann wenn wir uns als Mitschöpfer begreifen und verantwortlich mit ihr umgehen, um sie „uns nicht untertan“ zu machen, sondern als „Lehen zu betrachten. Das hier Dargelegte kann /soll und wird „vielleicht“ Interesse wecken an einem Seminar, einem Austausch über das, was „Schöpfer“ und „Schöpfung“ meint, um als Gottes geliebte Kinder im Hier und Jetzt zu leben.
Literatur zur Nach- und Vorbereitung: ·Andreas Weber, Lebendigkeit. Kösel-Verlag, München. 3/2014.·Richard Rohr, Alles trägt den einen Namen, Gütersloher Verlagshaus, 2019.·Gerhard Haszprunar, Neue Antworten für Hiob, EOS, St. Ottilien, 2016.·Dirk Ansorge / Medard Kehl, Und Gott sah, dass es gut war. Herder, Freiburg. 3/2018. ·Papst Franziskus, Laudato si, Umweltenzyklika, 2015.
Impressum:
Redaktion: Klaus Mass, Kapellenstraße 7, 85254 Einsbach, pfarramt-christ-katholisch@web.de
Namentlich gekennzeichnete Artikel müssen nicht unbedingt die Lehrmeinung der Kirche wiedergeben.
Leserbriefe sind stets erwünscht.
Ökumene:
Die evangelischen Bischöfe Hartmut Löwe und Heinrich Bedford-Strohm diskutieren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung theologische Deutungen der Coronapandemie
Evangelischer Militärbischof vermisst klare Deutungen
Das Schweigen der Hirten
Der ehemalige evangelische Militärbischof der Bundeswehr Hartmut Löwe kritisierte am 13. Mai in der FAZ das Verhalten der evangelischen Bischöfe während der Corona-Krise. Obwohl die protestantischen Kirchenleitungen nie verlegen seien zu gesellschaftlichen Situationen pointiert Stellung zu beziehen, fanden sie während der Corona-Krise zu keinem tieferen geistlichen Wort. Löwe kritisierte, dass die Kirchen sich bemühten Gott vollständig aus der Pandemie herauszuhalten. Auch wenn es nachvollziehbar problematisch sei, von einer Strafe Gottes zu sprechen, könne man doch das Walten Gottes nicht einfach aus wichtigen Lebensbereichen einfach herausnehmen. Wäre es nicht angebracht zumindest von einer „Heimsuchung“ zu sprechen? In, mit und unter allen will Gott gefunden werden, auch wenn wir nur mühsam oder gar nicht verstehen, was er uns sagen will.
Wer nicht vom Zorn Gottes zu sprechen vermag, verderbe auch die Rede von der Liebe Gottes, indem er diese zur bloßen Gefühlsduselei ohne Anhalt in der Lebenserfahrung degradiere. Ist etwa ein Unglück in der Stadt, das der Herr nicht tut (Amos 3,6)? Wer Gott aus der Pandemie herausstreicht, nimmt Hiob alle Hoffnung. Will Kirche Relevantes zu sagen haben, so dürfe sie weder den deus absconditus (verborgener Gott), noch den deus revelatus (offenbaren Gott) aus dem Blick verlieren. Kirche müsse endlich lernen, über die kulturprotestantischen Belanglosigkeiten hinwegzuschreiten und geistlich tiefer bohren.
Antwort vom Vorsitzenden des Rates der evangelischen Kirche in Deutschland Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm vom 25. Mai.
„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Psalm 90)
Wo ist Gott in dieser Krise? Ist die weltweite Pandemie ein Beweis dafür, dass es gar keinen Gott gibt, dass dieser Gott kein Interesse an seiner Schöpfung hat, dass er ohnmächtig ist, oder dass er durch die Krise handelt?
Wir können Gott nicht begreifen, niemand hat ihn je gesehen und doch hat er sich in Jesus Christus uns zugewandt. Wenn wir das Wirken Gottes in unserer Welt verstehen wollen, so können wir es nicht anders als an der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus versuchen. Jesus hat nicht getötet, er hat geheilt. Er hat Leben gerettet, nicht vernichtet. Damit ist es undenkbar, Gott als einen „Rachedämon“ zu verstehen, der das Virus schickt, um zu strafen, und dabei noch so, dass zuallererst die Schwachen und Verletzlichen getroffen würden.
Die Rede vom „deus absconditus“ (gemäß Luthers Lehre vom verborgenen Gott) mag für den einzelnen Gläubigen, der sein persönliches Schicksal in dieser Weise zu deuten vermag hilfreich sein, zur theologischen Weltdeutung genügt sie jedoch nicht, da sie den Bogen zwischen dem verdunkelten Gott und dem liebenden Gott überspannt. An dieser Stelle kann es schnell passieren, dass unsere Gottesrede zynisch oder absurd würde.
An dieser Stelle kommt die protestantische Theologie an ihre Grenze und hält es mit Sokrates: „Was über uns hinausgeht, geht uns nichts an.“
Als Wittenberg, zu Lebzeiten Luthers, von der Pest getroffen wurde, reagierte der Reformator indem er einerseits die Studenten in eine nicht betroffene Stadt schickte und andererseits sein Haus zu einem Spital umfunktionierte, in dem er für die Kranken und Sterbenden sorgte. Luther forderte zu seiner Zeit ein gutes öffentliches Gesundheitswesen und wo es das in ausreichender Weise nicht gäbe, dort habe der Christenmensch selbst zu leisten, was ihm möglich sei. Christen nehmen Verantwortung für das Ganze und schauen nicht nur auf das Ihre.
Hieraus erfolgt ein natürlich unauflösbarer Konflikt. Einerseits der Auftrag zur unbedingten Zuwendung zum Notleidenden, andererseits die notwendige Pflicht zur Distanz, um die Krankheit nicht weiterzutragen. So wird die Krise zu einer Bewährungsprobe für den Glauben.
In der Sprache Luthers ist es der Teufel, der mordet und uns in Todesschrecken bis hin zum Glaubensverlust versetzt. Dieser wäre es, der gewinnt, wenn wir einerseits den Glauben verlieren und dabei auch noch den Nächsten im Stich lassen.
Wer aber auf Christus setzt, den kann der Teufel nicht erschrecken, der hat die innere Kraft zu helfen, als ob er Gott selber hülfe. Und wer stirbt fällt nicht ins Nichts, sondern in die Liebe Gottes, von der uns der Tod nicht zu trennen vermag.
Vor diesem Hintergrund wurde die Osterbotschaft in diesem Jahr vielleicht sogar intensiver gehört als in den vergangenen Jahren. Der Tod hat nicht das letzte Wort! Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaft auferstanden.
Die Corona Krise zeigt uns, wie verletzlich unsere Zivilisation trotz aller Technik ist. Sie zeigt dem homo faber, dem Machermensch, wo seine Grenzen sind und zwingt ihn über Krankheit, Leiden und Sterben nachzusinnen.
„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Psalm 90)
Gesundheit ist eben nicht das höchste Gut (Wolfgang Schäuble), sondern die Würde des Menschen, welche sich letztlich aus dem Glauben an Gott ableitet. Die Frage nach Gott wird somit zur Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens und umgekehrt.
Schließlich ist die Krise ein Ruf zur Buße und Umkehr, zur Neuausrichtung unseres Lebens, sei es als Einzelner oder auch als Gesellschaft.
Eine übergreifende Debatte
Zu den Möglichkeiten und Grenzen analoger und digitaler Gottesdienste
Reflektionen zur Liturgie anlässlich der Corona-Pandemie
Die Anweisungen des Vatikans und der Bischöfe waren eindeutig. In Zeiten der Coronapandemie sei es unverantwortlich öffentliche Gottesdienste zu feiern. Die Kirchen dürften nicht zu Orten der Ansteckung werden und müssen daher den behördlichen Vorgaben folgen und schließen.
Das bedeutete natürlich nicht, dass in den Kirchen keine Gottesdienste mehr stattfanden. Zahlreiche Priester und Ordensgemeinschaften feierten die Liturgie nach wie vor, alleine oder in allerkleinsten Gruppen, in privaten Hauskapellen, wie auch in großen Kathedralen und Klosterkirchen. Zahlreiche Bischöfe haben ihre Priester ausdrücklich aufgerufen so zu handeln und stellvertretend für alle, die nicht teilnehmen können und für die von der Pandemie Betroffenen zu beten. Nicht wenige dieser Gottesdienste wurden auch als Fernsehgottesdienste oder als Livestreams im Internet gesendet. Das auf ein Minimum reduzierte liturgische Leben sollte durch Hausgottesdienste und Bibellektüre in den Familien ergänzt werden. Wer die Eucharistie empfangen wollte und in diesen Tagen keine Möglichkeit dazu hatte wurde von den Bischöfen entweder zum „eucharistischen Fasten“ oder aber auch zur „geistlichen Kommunion“ eingeladen.
Für eine Kirche, welche die Feier der Eucharistie als Herz und Mitte ihres Daseins versteht, bedeutete die pandemische Lage eine existentielle Herausforderung.
"Die liturgischen Handlungen sind nicht privater Natur, sondern Feiern der Kirche, die das "Sakrament der Einheit" ist; sie ist nämlich das heilige Volk, geeint und geordnet unter den Bischöfen. Daher gehen diese Feiern den ganzen mystischen Leib der Kirche an, machen ihn sichtbar und wirken auf ihn ein; seine einzelnen Glieder aber kommen mit ihnen in verschiedener Weise in Berührung je nach der Verschiedenheit von Stand, Aufgabe und tätiger Teilnahme."[1]
Rasch entstand eine breite Diskussion wie sinnvoll es sei, wenn Priester alleine oder mit nur sehr wenigen Gläubigen die Messe hinter verschlossenen Türen feiern und diese eventuell über die sozialen Medien in die Öffentlichkeit des Internets stellen? Handelt es sich tatsächlich um eine Feier des heiligen Volkes, wenn dieses nur durch wenige Menschen oder durch mediale Öffentlichkeit teilhaben kann? Sollte man tatsächlich während der Krisenzeit zu einem eucharistischen Fasten (Bischof Kohlgraf) aufrufen? Oder sollte die Gemeinde die Eucharistie nicht vielmehr in die Häuser der Gläubigen tragen?
Ludwig Jetschke erinnerten die gestreamten Gottesdienste an die vorkonzilare Situation. Auf seinem Blog Lingualpfeife beschrieb er diese Erinnerung wie folgt:
„Es war einmal ... da galt für den katholischen Klerus die tägliche Zelebrationspflicht der heiligen Messe. Da es die heutige Form der Konzelebration noch nicht gab, musste jeder also einzeln ran und so entstand insbesondere in Klosterkirchen und Kathedralen die architektonische Erfindung der Seitenaltäre, an denen also zeitgleich eine Fülle an „Stillen Messen“ zelebriert wurden. Pro Priester stand lediglich ein Ministrant zur Seite (wenn er nicht zu mehreren "geteilt" werden musste), um rechtzeitig „Et cum spiritu tuo“ zu sagen, das Messbuch von der Epistel- auf die Evangelienseite zu tragen oder zur Wandlung die Glocke zu bedienen. Apropos Wandlungsglocke: In der erneuerten Form des römischen Ritus ist diese ja lediglich akustisches Beiwerk und letztlich entbehrlich. Damals war sie aber nicht ganz unerheblich für jene Gläubigen, die sich doch ins Kirchenschiff verirrt hatten, um zur rechten Zeit am richtigen Altar zur Stelle zu sein, andächtig den Blick auf die erhobenen Gaben zu richten und damit im Fünf-Minuten-Takt zweimal sieben Jahre "Ablass" für sich oder liebe Verwandte zu gewinnen. War man nämlich raffiniert genug, die Messen in exakt dieser Taktung zu schalten, gab es da quantitativ sprichwörtlich „Gnade über Gnade“ abzustauben.“
Jetschke fragt, ob die aktuell über die Streamingdienste verbreiteten Messfeiern nicht ein Rückfall in längst vergangene Zeiten darstellt? Andererseits weist er aber auch darauf hin, dass man zumindest auf YouTube wenigstens 1.000 Abonnenten benötigt, um den mobilen Streamingdienst überhaupt in Anspruch nehmen zu können. Die selten professionellen Übertragungen kommen aus kleinen Privatkapellen ebenso wie aus menschenleeren Kathedralen.
Wird das Handy auf diese Weise zu einem modernen Seitenaltar, oder zu einem Instrument der tätigen Teilhabe? Das Zauberwort des zweiten Vatikanischen Konzils lautete Participatio Actuosa tätige Teilnahme des ganzen Volkes. Das Volk soll die Texte der Feier nicht nur verstehen, sondern sich auch aktiv in die Liturgie, durch Gesang, Lesungen, Fürbitten, Wechseldialoge und den tatsächlichen Sakramentenempfang einbringen.
Gegen Livestreams ist für Jetschke an sich sowenig wie gegen Fernsehübertragungen einzuwenden, doch auf welche Weise kann die Gemeinde aktiv daran teilhaben? Könnten Kantoren oder Lektoren nicht zugeschaltet werden? Sollte man die Gemeinde nicht auffordern ihre Fürbitten bereits vor der Messe an den Zelebranten zu senden, der diese dann live vortragen könnte? Sollte jeder Priester eine solche Feier selbstverantworten, oder wäre es nicht denkbar, zentrale Gottesdienste hochprofessionell aus jeder Domkirche oder bestimmten Klöstern zu senden?
Mit Albert Gerhards, Benedikt Kranemann und Stephan Winter schalteten sich drei führende Liturgiewissenschaftler in die Diskussion ein. Die Liturgiewissenschaftler bezeichneten die nichtöffentlichen Messen hinter verschlossenen Kirchentüren als „Geistermessen“, in denen der Priester stellvertretend und fürbittend für die von der Pandemie Betroffenen zelebrieren. Liturgie müsse öffentlich sein, damit alle Getauften in unterschiedlichen Rollen an ihr teilhaben könnten. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass die Liturgie ein Besitzstand des Klerus sei. Der Träger der Liturgie ist die vor Ort versammelte Gemeinde. Überträgt der Priester die Messfeier in den sozialen Medien, führt dies zu einer doppelten Exklusion: drinnen der exklusiv zelebrierende und kommunizierende Priester, draußen die auf virtuelle Präsenz und "geistliche Kommunion" reduzierten Laien.
Wenn sonntags in der Pfarrei die Messe weiter gefeiert wird, so kann nicht der Priester allein, sondern nur eine, wenn auch noch so kleine, Gemeinde Stellvertretung glaubwürdig repräsentieren. Die Masse der Gläubigen bleibt jedoch auf den familiären Hausgottesdienst verwiesen.
Auf die Ausführungen der drei Liturgiewissenschaftler antwortet ihr Freiburger Kollege Helmut Hoping mit einer ganz anderen Meinung. Wie seine Kollegen geht auch Hoping vom Konzilsdekret Sacrosanctum Concilium aus und ergänzt dieses mit dem geltenden Kirchenrecht der röm.-kath. Kirche (CIC 904).
„Denn alle liturgischen Handlungen der Kirche "sind nicht privater Natur, sondern Feiern der Kirche" (Sacrosanctum Concilium, Art. 26), auch wenn "die Feier in Gemeinschaft der vom Einzelnen vollzogenen vorzuziehen ist" (Art. 27). Da sich in der Darbringung der Eucharistie "das Werk der Erlösung fortwährend vollzieht" (Codex Iuris Canonici, Canon 904), empfiehlt die katholische Kirche den Priestern täglich zu zelebrieren, denn die Feier der Eucharistie ist, "auch wenn eine Teilnahme von Gläubigen nicht möglich ist, eine Handlung Christi und der Kirche"
Hoping antwortet seinen drei Kollegen, welche in der gegenwärtigen Praxis kein zeitgemäßes Liturgieverständnis mehr sehen und für die Zelebration der Messe ohne Volk den abfälligen Begriff der "Privatmesse" bzw. der "Privatzelebration" verwenden, wie folgt: eine Messfeier im Livestream, die ein Priester angesichts der Corona-Pandemie allein oder mit einem Messdiener und einem Kantor feiert, könne man nicht mit einer Winkelmesse vergleichen, die Priester im Mittelalter an Seitenaltären etwa für die armen Seelen im Fegefeuer feierten. Heute davon zu sprechen, dass Priester die Eucharistie als ihren "ureigenen Besitzstand" betrachten, wäre deshalb mehr als unangebracht.
„Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen." Daher komme es auf die Größe der gottesdienstlichen Versammlung für eine gemeinschaftliche Feier nicht an. Dennoch sollten der Eucharistiefeier am Sonntag auch im Ausnahmezustand, in den uns die Corona-Pandemie zwingt, wenn möglich, zwei oder drei Gläubige mitfeiern. Wo es nicht anders möglich ist, kann der Priester, wie auch am Werktag, allein zelebrieren.
Natürlich gilt Mt 18,20 auch und zuvorderst für das Gebet und das Hören auf Gottes Wort, etwa in der Familie, oder wenn zwei oder drei Personen in einer Kirche die Vesper beten, ob medial übertragen oder nicht. Niemand behauptet, dass Stellvertretung in der "Ecclesia orans" nur durch den Priester geschieht. Auffällig für Hoping ist aber die Aversion der drei Liturgiewissenschaftler gegen Messfeiern, die Priester für andere angesichts der Corona-Pandemie feiern. Am Ende läuft ihr Vorschlag darauf hinaus, alle Messfeiern einzustellen und sich als Volk Gottes im Gebet und Hören auf Gottes Wort miteinander zu verbinden. Für eine Kirche, die ihr Lebenszentrum in der Feier der Eucharistie besitzt, ist dies für Hoping ein zutiefst irritierender Vorschlag, da er an der Identität der katholischen Kirche rührt.
Schon immer wurde die Eucharistie auch für jene gefeiert, die daran nicht physisch teilnehmen können. Die Corona-Pandemie verlangt unkonventionelle Lösungen.
Alle genannten Liturgiewissenschaftler sind sich einig, dass die Feier der Eucharistie Herz und Mitte des Katholizismus darstellt. Gottesdienste müssen Feiern des ganzen Volkes sein, an welchem dieses in unterschiedlichen Rollen aktiv teilnimmt. Neben dem Regelfall der Gemeindemesse kann es auch Gründe geben, dass die Eucharistie (wie ja auch das Stundengebet) alleine von einem Priester gefeiert wird. Doch dieser feiert nicht seinen Gottesdienst, sondern hat Teil an der Feier der ganzen Kirche, die zu allen Zeiten, an allen Orten, auf Erden und im Himmel für und mit allen anderen feiert.
Eine Wahrnehmung aus der jüngeren Generation
Der Theologiestudent Matija Vudjan erinnert in seiner Replik (Forum Liturgie) auf Gerhards, Kranemann und Winter daher auch ganz zu recht daran, dass in einer Ausnahmesituation, wie wir sie aktuell erleben, kreative Lösungen gefragt sein müssen und nicht die reine Lehre des Normalfalls, von welchem die angeführten Konzilstexte ausgingen. Unter normalen Umständen, wenn es möglich und (gesundheitlich) erlaubt ist, dass sich die Gemeinde öffentlich zur Feier der Eucharistie versammelt, ist der Argumentation ohne Zweifel zuzustimmen. Aber: Die Konzilsväter haben sicherlich nicht daran gedacht, dass es einmal nötig und geboten sein würde, „unser gesamtes Leben für einige Zeit völlig um[zu]stellen“ (Bischof Overbeck) und dass infolgedessen Gläubigen die körperliche Anwesenheit bei der Feier der Eucharistie auf unbestimmte Zeit verwehrt bleiben würde.
Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Da die „Teilnahme“, von der LG 11 spricht, nicht mehr in körperlicher Weise möglich ist, hält Vudjan es für vollkommen legitim, die Teilnahme (und die tätige (!) Mitfeier) an der Eucharistie – und damit an einem wesentlichen kirchlichen Vollzug – auf eine andere, nichtphysische Art und Weise zu ermöglichen. Zum Beispiel eben über die sozialen Medien.
Als zweiten Punkt benennt Vudjan: Gerhards, Kranemann und Winter sprechen in ihrem Kommentar mehrfach von der ‚Privatmesse‘ bzw. davon, dass der Priester die Messe allein feiere. „Ich habe den Begriff hier absichtlich in Anführungszeichen gesetzt, denn ich bin überzeugt: In einer Eucharistiefeier, die live in den Medien übertragen wird, mag der Priester alleine im Kirchenraum sein, aber er ist dort nicht privat. Und die Gläubigen, die sich am Fernseher, Radio oder PC befinden, sind nicht nur Zuschauer des „durch den Priester korrekt vollzogene[n] Kult[s]“, wie die Liturgiewissenschaftler unterstellen, sondern sie nehmen an ihr teil. Der im Kirchenraum stehende Priester und die sich an den technischen Geräten befindenden Gläubigen feiern gemeinsam Eucharistie!“
Die Professoren sprechen in diesem Zusammenhang von der „virtuellen Präsenz“ der Gläubigen – und werten sie in Abhängigkeit von der körperlichen Präsenz des Priesters radikal ab. Die Anwesenheit in einem Gottesdienst ist – dieser Logik folgend – nur dann ‚gültig‘, wenn sie physisch ist. Diese Vorstellung ist für Vudjan defizitär – zumal in der gegenwärtigen Lage!
Die Diskussion, ob man zwischen der analogen und der digitalen Wirklichkeitserfahrung – die in der aktuellen Diskussion aufgemacht wird – trennen muss, oder ob es sich dabei nicht um zwei Seiten derselben Medaille handelt, ist nicht erst gestern entstanden, sondern wird schon seit vielen Jahren (Fernsehgottesdienste) geführt. Dass die digitale und die analoge Sphäre kompatibel sind – und wie groß ihre Kompatibilität tatsächlich ist, vermag ausgerechnet die uns beschäftigende Frage des Übertragens von Gottesdiensten aufzuzeigen. Das wesentliche (innertheologische) Kriterium ist und bleibt dabei die tätige Teilnahme.
Unbestritten ist, dass die Feier der Eucharistie unter den gegenwärtigen Bedingungen für die medial mitfeiernden Gläubigen ein großes Defizit hat: den fehlenden Kommunionempfang.
Aber: Ist eine Eucharistiefeier, in der der Kommunionempfang für die Gläubigen aufgrund der gegenwärtigen Ausnahmesituation nicht möglich (!) ist, „nicht mehr akzeptabel“? Wird durch eine solche Eucharistiefeier gar die Liturgie „beschädigt“, wie die Professoren insistieren?
Matija Vudjan zeigt sich irritiert darüber, dass Gerhards, Kranemann und Winter vollkommen unterschlagen, dass Gott in der gesamten Eucharistiefeier – sowohl im Wort als auch im Sakrament – real präsent ist – und nicht nur in der Materie von Brot und Wein. Wer in diesen Tagen eine Eucharistiefeier über die Medien mitfeiert – und ja, es geht hier nicht um ein bloßes Zuschauen, sondern tatsächlich um ein bewusstes (!) Mitfeiern –, kann die Lieder des Gottesdienstes mitsingen und die Akklamationen mitsprechen. Am Sonntag kann er in das Credo einstimmen. Er hört das Wort Gottes in den Schriftlesungen und im Psalmvortrag – und er hört seine Auslegung in der Predigt.
Wer die Hl. Messe medial mitfeiert, sieht sich und seine Anliegen in den Fürbitten vor Gott getragen – ebenso in der Gabenbereitung. Er stimmt mit ein in das himmlische Sanctus und in das Vaterunser und er bekennt, dass in den eucharistischen Gaben von Brot und Wein Christus, das Lamm Gottes, selbst real gegenwärtig ist. Er wird entlassen aus dem Gottesdienst – gestärkt durch den Segen Gottes. Wer die Eucharistiefeier über die Medien bewusst verfolgt, schaut nicht dem Priester beim Kult zu, sondern nimmt voll, bewusst und tätig daran teil.
Und damit vergegenwärtigt er gemeinsam mit dem im Kirchenraum anwesenden Priester und den vielen anderen über die Medien verbundenen Menschen das Heilshandeln Gottes, das in Tod und Auferstehung Jesu Christi seinen universalen Höhepunkt erreicht hat. Die Versammlung ist zwar keine physisch-präsente, aber eben eine virtuell-reale: Auch die virtuell über die unterschiedlichen Medien versammelte Gemeinde wird durch die gemeinsame Feier der Eucharistie zum Leib des Herrn, zum mystischen Leib Christi.
Der Einwand des Theologiestudenten gegen die Argumente seiner Professoren beschreibt sicherlich auch einen Generationenwechsel. Leben die einen noch ganz analog, ist die digitale Welt für den anderen schon echte Realität.
Der fehlende Kommunionempfang
Der Innsbrucker Theologe Jozef Niewiadomski schaltete sich wie folgt in die Diskussion ein:
Der gesunde Menschenverstand gebietet heute „physische“ Distanz! Es ist dies aber das exakte Gegenteil dessen, was in der sakramentalen Feier der Eucharistie stattfindet. Damit aber auch das Gegenteil der „Katholischen Kirche“! Wir feiern die Transformation (mit dem alten und ausgeleierten Wort als „Wandlung“ bezeichnet) der Isolation in die Nähe, mehr noch: wir feiern die Transformation der Preisgabe und Beseitigung eines leibhaft verfassten Lebens in die denkbar größte Gemeinschaft dank der transformierten Leiblichkeit Jesu Christi.
Das „Geschehen des Brotbrechens“ direkt vor der Passion, die dramatischen Ereignisse von Golgota und das Mahl mit dem Auferweckten in Emmaus sowie die vielen Mähler im Abendmahlssaal nach Ostern und Pfingsten gehören zusammengedacht; sie verdichten sich in der sakramentalen Feier der Eucharistie. Diese stellt – und dies wohl im Unterschied zu anderen liturgischen Feiern – nichts anderes dar, als die geistgewirkte sakramentale Vergegenwärtigung der damals an konkreten Orten und in konkreter Zeit stattgefundenen Ereignisse. Eucharistie, damit aber auch die Kirche, bedeuten Integration, nicht aber Isolation. Und dies nicht nur in einem abstrakten Sinn des Wortes. Aus guten Gründen verbindet also die Eucharistiefeier die Verkündigung des Wortes Gottes, dessen Lob mit den für die Feier wohl konstitutiven materiellen Elementen: Die Verinnerlichung der Hingabe Christi erfolgt auch durch das Essen und Trinken der eucharistischen Gestalten. Das Ereignis dieser Kommunion verdichtet all die kirchlichen Bemühungen um die tagtäglich stattfindende Integration von all den Ausgeschlossenen, die seitens der um Caritas bemühten Christinnen und Christen geschehen.
„electronica quasicatholica“
Schlussendlich verwischt für den Innsbrucker Theologen der bloß medial gefeierte Gottesdienst die sakramental konstitutive Differenz zwischen Zeichen und der durch dieses Zeichen bezeichneten Sache. Und dies schon deswegen, weil er (wie wir dies von der Kommunikation in den sozialen Medien wissen und aus den Hoffnungen, die man mit der weiteren Entwicklung von Cyberspace ablesen kann, erahnen) das Gefühl der unmittelbaren Präsenz vermittelt. Das Göttliche kann aber von sterblichen Menschen nicht unmittelbar genossen werden. Deswegen war auch dem Christentum die Erlebnisqualität der Feier niemals ein Kriterium für die Erfahrung des Göttlichen. Von daher ist es gerade jetzt dringend notwendig, kirchlich darauf hinzuweisen, dass eine gestreamte Eucharistie oder aber Eucharistie im Fernsehen höchstens ein Zeichen für die an Ort und Stelle gefeierte Eucharistie ist. Die inzwischen neu aufgelebte Diskussion über das – damit verbundene – „eucharistische Fasten“ und die „geistige Kommunion“ soll das Missverständnis einer Gleichsetzung verhindern, entzieht sich aber kaum demselben Missverständnis.
In welche Richtung soll man also weiterdenken? Gerade angesichts der Tatsache, dass die „physische“ Distanzierung auch die Feier des Triduum Sacrum und die Ostertage betraf. Die Analogie zur Situation der im verriegelten Abendmahlssaal sitzenden Jünger lädt dazu ein, über neue Modelle kirchlich-sakramentaler Präsenz unter den „sozial distanzierten“ Gläubigen nachzudenken. Es ist gut daran zu erinnern, dass der Auferweckte den eingeschlossenen Kleingruppen, die ja beim Gebet verharren, erscheint. Die Dimension der Sakramentalität verlangt aber das reale „Essen“ des eucharistischen Brotes. Hier ist nur die Tradition der seit alters her gepflegten „Kommunion für und mit den Kranken“ weiterhelfend.
Die Ermöglichung der Hauskommunion
Die Bischofskonferenzen hätten daher mutig die Empfehlung/Weisung geben müssen, so immer noch Niewiadomski, dass kirchlich gebundene Menschen in „ihren“ Kirchengemeinden die Eucharistie für ihre Angehörigen holen. Bei dem kleinen Zeichen geht es nicht nur um das Verzehren von Hostien, die irgendwo „gewandelt“ wurden, sondern um das Zeichen, dass die in ihren Wohnungen betenden Menschen zu dem einen „Leib Christi“ gehören. Denn dafür steht ja die vor Ort Eucharistie feiernde Kirchengemeinde: in Zeiten von Corona auf ein Mindestmaß reduziert. Das Bringen von Eucharistie in die Häuser durch einen der Familienangehörigen stellt zudem ein Zeichen der tagtäglich durch sie im familiären Kreis stattfindenden Durchbrechung, damit auch Wandlung der sozialen Distanzierung dar, fügt sich also in das sakramentale Verständnis dessen, worum es bei der Eucharistie geht. Ein solches Vorgehen würde wohl besser dem sakramentalen Verständnis der Kirche entsprechen als all die Hinweise auf die gottesdienstliche Präsenz in den Medien. Die Eucharistie (ob nun medial übertragen oder nicht) kann nach dieser Argumentation nicht nur alleine oder im kleinsten Kreis gefeiert werden, sondern muss es sogar, denn der Leib Christi lebt davon den Leib Christi zu empfangen.
Der Liturgiewissenschaftler Cornelius Roth aus Fulda fasste die bisherige Diskussion wie folgt zusammen: Derzeit ist eine Diskussion im Gang, ob die Feier der Heiligen Messe via Livestream mit der Beteiligung nur eines Priesters (und einiger weniger Gläubiger) ein Rückschritt hinter längst veraltete Formen darstellt – verbunden mit einer Exklusion aller anderen und einer Missachtung des Gemeinschaftscharakters der Eucharistie –, oder ob nicht vielmehr in Notsituationen, wie die Corona-Pandemie mit Sicherheit eine ist, die Einzelzelebration des Priesters nicht nur erlaubt und geboten sein sollte, sondern auch ein Gewinn für alle anderen bedeuten könnte, weil er sie gleichsam stellvertretend für diese feiert.
Online-Communities sind echte Gemeinschaften auch im theologischen Sinn
In Zeiten des Internet und der Corona-Pandemie muss man Gemeinschaft aber wohl insgesamt neu denken. So seltsam es für den zelebrierenden Priester anmutet, bei den derzeitigen Livestreamgottesdiensten in eine leere Kirche hinein zu singen und zu predigen, so wir umso spürbarer – je länger man dies praktiziert –, dass eine virtuelle Gemeinschaft mit den Menschen entsteht, die an verschiedenen Orten digital mit dieser Messe verbunden sind. Online-Communities sind echte Gemeinschaften auch im theologischen Sinn und entsprechen sowohl dem Communio-Prinzip als auch dem Prinzip der aktiven Beteiligung (participatio actuosa) des zweiten Vatikanischen Konzils. Am Bildschirm kann mitgesungen und mitgebetet werden, man kann wirklich mit dem Herzen dabei sein, auch wenn die Kommunion nur auf geistliche Weise empfangen werden kann.
Die Corona-Krise kann uns liturgisch daher auch einen neuen Blick auf die Bedeutung der gottesdienstlichen Gemeinschaft im Internet eröffnen und deutlich machen, dass selbst der (analog) allein zelebrierende Priester durchaus mit der Welt verbunden sein kann, wie er es ja durch die Nennung anderer Personen im Hochgebet (Papst, Bischof, alle die zu einem Dienst in der Kirche bestellt sind, Verstorbene etc.) immer schon war. Insofern eignen sich die derzeitigen Livestreamangebote tatsächlich nicht dazu, prinzipielle liturgietheologische Streitigkeiten auszufechten, wie Helmut Hoping gegenüber den Kritikern der Einzelzelebration geltend machte, wohl aber dazu, die positiven Möglichkeiten einer Liturgie im Internet einerseits zu schätzen und andererseits neu zu entdecken und weiterzuentwickeln. Soweit Cornelius Roth.
Während bereits Jozef Niewiadomski darauf hingewiesen hatte, wie sehr es notwendig wäre, die Eucharistie in die Hauskirchen zu tragen, ergänzen die Theologen Daniel Bogner und Johann Pock diesen Vorschlag durch die Forderung, dass die Eucharistie auch in der priesterlosen Hausgemeinde konkret gefeiert werden könnte. Ein Vorschlag, der über die Konfessionsgrenzen hinweg breite Ablehnung erfahren hat.
Das Abendmahl in der priesterlosen Hausgemeinschaft selber feiern?
Volker Leppin wies in einem Beitrag darauf hin, dass insbesondere in der evangelischen Kirche ein großes Durcheinander entstand, da einzelne Landeskirchen entsprechende Vorschläge sowohl unterstützten, als auch deutlich verurteilten.
Was dann so alles geschehen ist, konnten medienaffine Menschen in sozialen Netzwerken beobachten. Und: Es ist nun geschehen. Auch wo man, wie Leppin, den Eindruck hat, dass reichlich Porzellan zerschlagen wurde, kann es nun nicht darum gehen, den Niedergang der Abendmahlskultur zu beklagen, sondern wir müssen die Scherben zusammenkehren und bedenken, wie wir künftig für solche Situationen theologisch und seelsorglich gewappnet sind. Dabei sollte sich akademische Theologie den seelsorglichen Aufgaben nicht verschließen, umgekehrt aber auch die pfarramtliche und kirchenleitende Praxis sich nicht von theologischen Bedenken dispensieren. Auch das Verständnis vom allgemeinen Priestertum legitimiert die Feier des Hausabendmahles durch nicht ordinierte Personen nicht. Analog zur Nottaufe könnte eine solche Feier, für den evangelischen Theologen, allein in unmittelbarer Todesgefahr als gerechtfertigt erscheinen. Nun gilt auch hier: Jammern post festum hilft nicht. Der theologische und kirchenrechtliche Auftrag für die Zukunft heißt, klarer zu definieren, was im Falle des Abendmahls eigentlich als Notlage gelten kann.
In priesterloser Gemeinschaft nicht Eucharistie, sondern Agape feiern
Die Agapefeier reicht den gemeinschaftsstiftenden Ritus des Brotbrechens durch die Generationen weiter. Sich in Krisensituationen auf sie zu besinnen, hätte noch dazu den Vorteil, ökumenisch in die unterschiedlichsten Richtungen verträglich zu sein. Während die mangelnde Vorsicht im Umgang mit Fragen der Ordinationstheologie im Blick auf die Ökumene mit der römisch-katholischen Kirche erheblichen Flurschaden anzurichten droht, ist die Agapefeier auf katholischer Seite bekannt und akzeptiert und beispielsweise von der Diözese Rottenburg-Stuttgart auch für den Gründonnerstag 2020 als häusliche Feier empfohlen worden.
Für die Agape ist die geistliche Gemeinschaft im Glauben entscheidend. Wo diese gegeben ist, gilt auch für die digitale Versammlung die Verheißung von Mt 18,20: „wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“. Anders gesagt: Agape kann man im Haus feiern, und man kann sie digital feiern.
Infokasten:
Über ihre Arbeitsstelle missionarische Kirchenentwicklung hat die evangelische Kirche in Deutschland eine erste Studie zur Evaluierung der Onlinegottesdienste während der Coronapandemie vorgelegt. Für die Studie wurden 897 Fragebögen ausgewertet, welche folgende Ergebnisse brachten: Online konnte die Kirche viermal so viele Menschen erreichen, wie über die üblichen Gottesdienste. Die Angebote erstreckten sich vom Abfilmen gewöhnlicher Gottesdienste, über interaktive Formate, bis hin zu kürzeren Impulsen. Ca. 80 % aller Angebote wurden durch Geistliche erstellt und nicht auf klassischen Kirchenseiten, sondern auf großen Plattformen wie Youtube eingestellt. Kürzere Angebote wurden besser angenommen als längere. 78% der Studienteilnehmer berichteten, dass sie zuvor keine Erfahrung mit digitalen Gottesdiensten gehabt hätten. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer hätte sich mehr Unterstützung durch die Kirchenleitung, insbesondere in urheberrechtlichen Fragen gewünscht. (FAZ 29.06.2000)
Buchbesprechungen von Axel Stark,
Akademischer Oberrat i.R. (Universität Passau)
Wunibald Müller
Verbrechen und kein Ende?
Notwendige Konsequenzen aus der Missbrauchkrise, Würzburg 2020, Echter-V., 197 S.
Der Psychotherapeut und Theologe Müller leitete jahrelang das Recollectio-Haus in Münsterschwarzach. Er zieht klare Konsequenzen aus dem Verbrechen des Missbrauchs und dessen Vertuschung durch die Hierarchie. Das klerikale System muss zum Einsturz kommen, Papst und Bischöfe müssen Macht abgeben und teilen. Endlich müssen Positionen aufgegeben werden, die sexualisierte Gewalt begünstigen können, z.B. den Pflichtzölibat, die negative Einstellung zur Homosexualität, eine wirklichkeitsfremde Sexuallehre, die Weigerung, Frauen zu Priesterinnen zu weihen. Müller: Sind die Bischöfe nicht bereit oder auch nicht in der Lage dazu, müssen sie damit rechnen, dass man ihnen die Macht nimmt- der Menschen, der Kirche, Gottes wegen.
Stefan Kopp (Hg.)
Kirche im Wandel
Ekklesiale Identität und Reform
Freiburg 2020, 460 S., 58 €
Die Katholische Kirche ist aktuell massiv herausgefordert, neu über ihre Identität und notwendige Reformen nachzudenken, um ihrem Auftrag gerecht zu werden. Der Band aus der Reihe „Quaestiones Disputatae“ wird von dem Paderborner Liturgiewissenschaftler Kopp herausgegeben. Er dokumentiert einen fundierten theologischen Reformdiskurs, der auf der Basis demoskopischer, soziologischer und philosophischer Erkenntnisse geführt wird. Biblisch-, historisch-, systematisch- und praktisch-theologische Reflexionen vertiefen zentrale Fragen nach dem kirchlichen Veränderungspotential und weiten den Blick auf eine Kirche, für die Wandel Grundzug und Dauerauftrag war und ist. Zu den Autoren gehören Michael N. Ebertz (Die Entgrenzung des kirchlichen Feldes in der Gegenwart), Franz Xaver Bischof (Reform als Strukturprinzip der Kirche), Michael Seewald (Was gilt in der Kirche? Über göttliches Recht und die Möglichkeit dogmatischen Wandels), Johanna Rahner (Warum Tradition und Innovation unaufgebbare Grundmodi kirchlicher Lehre sind ...), Hans-Joachim Höhn (Zeichen der Zeit-Zeichen des Wandels), Ursula Nothelle-Wildfeuer (Glaubwürdig Kirche sein. Subsidiarität ad extra und ad intra), Rüdiger Althaus (Das Kirchenrecht – ein überzeitlicher Fels in der Brandung oder Wegbereiter der Veränderung?). Kardinal John H. Newman: „In einer höheren Welt mag es anders sein, aber hier unten heißt Leben sich wandeln, und vollkommen zu sein, sich oft gewandelt zu haben.“ (S.9)
Reinhard Marx
Freiheit
München 2020, Kösel-V., 175 S.
Wenn für einen kirchlichen Hierarchen die Freiheit zu den Kernbotschaften des Christentums gehört, lässt dies aufhorchen. Gilt die Amtskirche nicht unbedingt als Vorkämpferin der Freiheit in ihrer 2000 jährigen Geschichte. Marx : "Freiheit ist ein Weg, ein Prozess. Freiheit unterliegt einer Dynamik, ist nicht ein für alle Mal gegeben, sondern ständige Herausforderung. Sich einzusetzen für die Befreiung von Menschen, die unter Zwang und Unrecht leiden, und sich in Freiheit für das Gute zu entscheiden, auch wenn es etwas kostet und Mühe macht, das ist ein bleibender Auftrag sowohl für Politik und Gesellschaft als auch für die Kirche, die selbst in einer Freiheitsgeschichte wurzelt." Marx hat mit dieser Aussage recht. Schauen wir, wie der Weg der Kirche in Zukunft ein Weg der Freiheit sein wird oder nicht sein wird. Messen wir die künftige Praxis des Kardinal Marx und auch unsere Praxis am Maßstab der Freiheit. Werden wir sensibel für die vielen Formen der Unfreiheit in Kirche und Gesellschaft und wagen wir den Exodus aus der weltweiten Unfreiheit, aus dem Sklavenhaus des Pharaos.
Walter Kardinal Kasper
Juden und Christen – das eine Volk Gottes
Freiburg 2020, 160 S., 22 €
Kasper war von 2001 bis 2010 als Kurienkardinal für die religiösen Beziehungen zum Judentum innerhalb der Kurie verantwortlich. In diesem Sammelband sind ganz neue und ältere Aufsätze und Vorträge enthalten. Angesichts des immer wieder neu aufflammenden Antisemitismus plädiert Kasper für eine gegenseitige Wertschätzung und Achtung von Juden und Christen. Er will den Dialog nach der Katastrophe der Schoah intensivieren, damit Juden und Christen gemeinsam Zeugnis geben können von Gott, der mit den Menschen auf dem Weg ist. Eine längere Erstveröffentlichung steht am Beginn „Juden und Christen – Neuanfang nach der Katastrophe der Schoah“ (S.13-73), es folgen „Hinweise zu dem Fragenkatalog für das Projekt Judentum im kath. Religionsunterricht (75-79), „Die Reichspogromnacht und die Gleichgültigkeit“ (81-89), „Juden und Christen-Schulter an Schulter (91-100, Referat beim Festakt zur Woche der Brüderlichkeit am 10.3.2002 im Hessischen Landtag in Wiesbaden), „Ansprache zur Woche der Brüderlichkeit 2007 in München“ (101-108), „Nostra aetate und die Zukunft des jüdisch-christlichen Dialogs“ (109-129, Vortrag 2006 beim ersten Treffen der Rabbiner Deutschlands mit Vertretern der Kath. und Ev. Kirche), „Theologische Schwerpunkte im christlich-jüdischen Gespräch“ (131-142), „Juden und Christen – das eine Volk Gottes“ (143-157). Zum Konzilsdokument Nostra aetate schreibt Kasper: „Nostra aetate ist weit davon entfernt, ein erledigtes Programm zu sein. Es ist meine Hoffnung, dass die Geschichte der Verbesserung des Verhältnisses zwischen Kirche und Judentum uns ermutigen wird, den Weg weiterzugehen zum Wohl der ganzen Menschheit und für den Frieden (shalom) in der Welt.“ (S.156)
Karl-Wilhelm Merks
Theologische Fundamentalethik
Freiburg 2020, 472 S., 68 €
Merks, Jg. 1939, ist emeritierter Professor für Moraltheologie in Tilburg (NL). In diesem Buch entfaltet er das Modell einer autonomen Verantwortungsethik und zeigt, wie diese neue Moral trotz aller Neuerungen doch in einer sinnvollen Beziehung zur Tradition, insbesondere zu Thomas von Aquin, verstanden werden kann. Hauptakzente sind hierbei die Bedeutung der modernen Freiheitskultur mit ihrer konsequenten Anthropozentrik, die Abkehr vom Naturrecht bzw. seine Neuinterpretation, die Spannung zwischen Autoritäten und dem Subjekt mit seinem Gewissen, das Verständnis von Verantwortung, sowie die Rolle und Gestalt der moralischen Vernunft in einer heutigen theologischen Ethik. Die These von Merks: Christliche Ethik und säkulare Ethik haben die gleiche Fundamentalethik als Grundlage nötig – und diese ist wesentlich säkularer Art, Sache von praktischer Vernunft und Erfahrung. Die Pointe: Gerade als solche ist sie theologisch bedeutsam. „Das menschliche Zusammenleben wird letztlich nicht durch Einhalten von Regeln und Gesetzen zum menschlichen Zusammenleben, sondern erst durch deren Einordnung in die weiteren Dimensionen von Gerechtigkeit, Großzügigkeit, Barmherzigkeit und Liebe.“ (S.443)
Stefan Silber, Pluralität, Fragmente, Zeichen der Zeit
Aktuelle fundamentaltheologische Herausforderungen aus der Perspektive der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung
Innsbruck-Wien 2017, Tyrolia-V., 303 S., Salzburger Theol. Studien.
Diese Osnabrücker Habilitationsschrift widmet sich im ersten Teil der Weiterentwicklung und Rezeption der Theologie der Befreiung. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Aktualität und der sich fortschreibenden Gegenwartsbezogenheit sowie auf der wachsenden Pluralität dieser Theologie. Der zweite Teil blickt aus der Sicht und Tradition der Theologie der Befreiung auf die Frage der Religionen und ihrer Pluralität. Der dritte Teil stellt sich den pluralen Entwicklungen der lateinamerikanischen Großstädte. Beide Themenbereiche, Religionen und Großstädte, werden als Zeichen der Zeit behandelt und stellen somit Herausforderungen für die Theologie dar; in beiden Bereichen wird gezeigt, dass die Theologie der Befreiung durch die prinzipielle Ausrichtung an der Option für die Armen über die besten Voraussetzungen verfügt, um diese Herausforderungen zu beantworten. Silber erhielt 2017 den Erwin-Kräutler-Preis für kontextuelle Theologie und interreligiösen Dialog des Zentrums Theologie Interkulturell und Studium der Religionen der Universität Salzburg.
Pfarrer Gerhards Kräuterkolumne
Rotklee, Trifolium pratense
Der Rotklee auch einfach nur „Wiesenklee“ genannt, ist krampflösend, harntreibend und östrogenhaltig. Er enthält außer Vitaminen und Mineralien auch blutverdünnende Sub-stanzen, vor allem eine Vielzahl an pflanzlichen Hormonen. Diese gleichen denen, die unser Körper produziert. Zusammen mit Salbei, Hopfen und Mönchspfeffer kann selbst ein „Gebräu“ hergestellt werden, das gegen die Malaisen des „letzten Wechsels“ hilfreich sein kann. Außer dieser Anwendung ist der Klee für die Verdauungsorgane und die Blutreinigung hilfreich. Als Tee eignet sich der Rotklee zur Förderung der Lebertätigkeit, der Verdauung und zur Gallensaftproduktion. Auch der Weißklee wirkt als Tee blutreinigend. In der Rekonvaleszens können beide angewandt werden. Beide eignen sich für Teeumschläge gegen rheumatische Schmerzen und Milchdrüsen-Entzündung. Hildegard von Bingen(1098-1179) war die erste, die den Rotklee erwähnenswert findet. In ihrer „Physica“ lässt sie im ersten Buch („von den Pflanzen) im Kapitel 108 verlauten: „ De Cle ist sowohl warm als kalt, und er ist auch trocken und für die Weide des Viehs ist er nützlich. Aber für die Menschen taugt er wenig, es sei denn gegen die Verdunklung der Augen. Dann lege seine Blüten in Baumöl und zerreibe sie darin ohne Kochen und salbe sogleich um die Lider und um die verdunkelten Augen. Und das mache immer frisch. ... Und wenn der Kranke auf diese Weise oft gehandelt hat, wird er die Verdunklung seiner Augen vertreiben.“ Der Naturforscher und Arzt Lonicerus (Adam Lonitzer, 1528-1586) nennt ihn ein erweichendes und weißflussstillendes Mittel. Matthiolus (Pietro Andrea Mattioli, 1501-1577, italienischer Arzt, Botaniker sowie Leibarzt des Erzherzogs Ferdinand II. und des Kaisers Maximilian II.) weiß, dass Rotklee die Menses stillt. In Essig angesetzt und in der Wohnung ausgebracht war er wohl ein hilfreiches Kraut gegen Dämonen und Hexen. Jedes Kind kennt den Klee, weil es sich erhofft, auf der Suche nach vierblättrigen Kleeblättern das Glück zu finden. Das vierblättrige Kleeblatt gilt als besonders glücksverheißend im Spiel und bei Verlosungen. Das Glück durch Klee finden aber vor allem die Tiere, die ihn besonders gerne fressen. In die Kleidung eingenäht, schützte es vor Unglück auf der Reise. Hellsichtig soll es machen, dieses Kleeblatt und vor Verblendung soll es schützen. Unglück hingegen bringt ein fünfblättriger Klee und der siebenblättrige bedeutet Tod. In den Rotklee-Blüten wurde eine Menge an sekundären Pflanzeninhaltstoffen nachgewiesen. Während der Blütezeit kann man/frau gut in die Ernährung einbeziehen. Das gilt für die gezupften süßen Blüten genauso wie für junge Blättchen. Sie ergänzen Salate, passen in Brotaufstrich, Eierspeisen, Suppen und Gemüsezubereitungen. Auch ein saftiges Steak freut sich ganz einfach über die essbare Dekoration aus Blütenpracht. Ich meine das reicht! Gott befohlen und herzlichst –Euer Kräuterpfarrer Gerhard.
[1] Sacrosanctum Concilium, Art. 26: