Zeitschrift für Theologie, geistliches Leben und christliche Kultur
Die Heilige Schrift im Licht der Ostkirche und der Väter gesehen
Von Klaus Mass
1.Die Kanonbildung der christlichen Bibel
Bis vor kurzem war es gar nicht so leicht möglich, einen authentischen Zugang zum orthodoxen Schriftverständnis zu gewinnen. Es ist Konstantinos Nikolakopoulos zu verdanken, welcher seit 1998 als Professor für Biblische Theologie an der Universität München lehrt, diese Lücke mit seinem bereits 2011 erschienenen Lehr- und Studienbuch „Das Neue Testament in der Orthodoxen Kirche“ geschlossen zu haben.
Die Bibel ist im orthodoxen Verständnis keine Norm, welche der Kirche vorausgeht, sondern eine Schrift der Kirche, die nur im apostolischen Glauben richtig erfasst und ausgelegt werden kann.
Die ersten Christen haben mit absoluter Selbstverständlichkeit die heilige Schrift der Juden, unser heutiges Altes Testament als ihre Bibel übernommen und im Licht des christlichen Glaubens zu lesen begonnen. Konstantinos Nikolakopoulos beschreibt die Situation der Urkirche mit einem Zitat von Hans von Campenhausen:
„Hätte man einen Christen um das Jahr Hundertgefragt, ob seine Gemeinde ein heiliges und verbindliches Buch göttlicher Offenbarung besäße, so hätte er die Frage stolz und ohne Zögern bejaht: die Kirche besaß solche Bücher, das Gesetz und die Propheten, das heute sogenannte Alte Testament. Über hundert Jahre lang, noch um die Mitte des zweiten Jahrhunderts bei Justin, erscheint das Alte Testament als die einzige, maßgebende und völlig ausreichende heilige Schrift der Kirche, auf die sich die Juden, die Christus ablehnen, darum nur zu unrecht berufen. Denn die Weissagungen dieses Buches gehen auf diesen Herrn, Christus, zurück; er selbst redet klar und vernehmlich durch die alttestamentlichen Propheten und steht in der
Fluchtlinie der ganzen bisherigen Heilsgeschichte, die er ans Ziel bring“.
Nach der Zerstörung des Tempels musste sich das Judentum neu finden und als rabbinisches Judentum neu definieren. Dieses geschah in einer intensiven Auseinandersetzung mit der hl. Schrift auf der Synode im Jamneia (Ende 1. Jhd.), welche die die sogenannten deuterokanonischen Schriften aus dem Kanon der Bibel aussortierte.
Die Christen jedenfalls haben sich nicht verpflichtet gefühlt diesen „engen“ Kanon zu übernehmen, sondern sich fallweise sowohl auf den „breiteren“ Kanon der hl. Bücher als auch auf den „engeren Kanon“ völlig unproblematisch eingelassen.
Gleichzeitig sind in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts zahlreiche christliche Schriften entstanden, von denen etliche durch kirchliche Auswahl der hebräischen Bibel im Laufe des zweiten Jahrhunderts „als eine zweite Sammlung heiliger Schriften von gleicher Autorität“ hinzugefügt wurden. Im Alten Testament ist das Neue Testament prophetisch vorgebildet, das wiederum dessen letzten Sinn erfüllt und erhält. Die Schrift ist somit ein einziges Buch dessen Teile sich gegenseitig interpretieren. Die Bezeichnung „Neues Testament“ stammt allerdings erst aus dem dritten Jahrhundert. Auch wenn alle heutigen Texte dieser „zweiten Sammlung“ bereits um 150 n. Chr. allgemein anerkannt und verbreitet waren, lag die christliche Bibel doch noch nicht abschließend vor. Die Sammlung der christlichen Bücher war (regional unterschiedlich) noch durchsetzt von zahlreichen weiteren altkirchlichen Texten. Hierbei handelte es sich zum einen um Texte wie die Klemensbriefe, die Didache oder auch den Hirt des Hermas und zum anderen um „gnostische“ Schriften wie z.B. das Thomasevangelium. Es darf als die große theologische Leistung des zweiten und dritten Jahrhunderts gelten, entsprechende Texte als nicht authentisch erkannt und aus dem biblischen Kanon ausgesondert zu haben. Das leitende Kriterium dürfte gewesen sein, dass man sich auf die Texte beschränken wollte, deren Entstehung man mit großer Sicherheit im ersten Jahrhundert (der Zeit der Apostel) verorten konnte. Gleichzeitig bekannten sich die Väter trotz heftiger Anfragen z.B. durch den Theologen Markion zur Beibehaltung des ganzen alttestamentlichen Kanons.
Der Begriff „Evangelium“ bezeichnete ursprünglich nicht einen bestimmten Buchtypus, sondern die gesamte christliche Lehre. Die vier (späteren) kanonischen Evangelien dürften bereits in der Mitte des zweiten Jahrhunderts überall als „Schrift“ verstanden worden sein und „den gleichen Rang wie das von den Christen weiterhin als ihre hl. Schrift gelesene und von ihnen ausgelegte Alte Testament“ erreicht haben. Bei Augustinus heißt es, „das ganze Alte Testament lässt Christus erklingen“ .
Die Kirche brauchte also mehrere Jahrhunderte um den biblischen Kanon festzulegen, dies geschah in theologischer Auseinandersetzung mit Gnostikern , endzeitlichen Apokalyptikern (Montanisten, Valenterianer) und antijudaistischen Markioniten. Alle Schriften wurden an Hand von zwei Kriterien geprüft: a) Entspricht der Text der regula fidei (Glaubensregel) und b) ist der Text auf die Lehre der Apostel (Apostolizität) rückführbar?
Für die orthodoxe Kirche gilt die Kanonbildung mit dem 39. Osterfestbrief des Heiligen Athanasius von 367. n. Chr. als abgeschlossen. Für den Westen gilt das Jahr 405 n.Chr., in welchem Papst Innozenz die Liste des Athanasius bestätigte.
Eine Ausnahmestellung unter den neutestamentlichen Texten bildet die Offenbarung des Johannes. Dieser Text wurde zwar in den biblischen Kanon aufgenommen, er blieb jedoch während des ganzen ersten Jahrtausends in seiner Bedeutung umstritten und wird bis heute in keinem orthodoxen Gottesdienst verlesen.
Der biblische Kanon ist niemals durch ein altkirchliches Konzil festgelegt oder bestätigt worden, dies geschah erst auf dem Konzil von Trient in Auseinandersetzung mit den Kirchen der Reformation.
Mit dem Wechsel von der Spätantike zum frühen Mittelalter wurden die im Gottesdienst zu verlesenden Texte in Auswahlbücher (Eklogadia), welche auch Lektionare oder Evangeliare genannt werden, zusammengefasst. Lektionare sind keine homogene Größe und umfassen Perikopen unterschiedlichster Textsorten. Die Erforschung der Lektionare ist noch nicht weit fortgeschritten und bietet jungen Wissenschaftlern aus Sicht der orthodoxen Bibelwissenschaft ein ziemlich interessantes Forschungsfeld.
2.Exegetisches Arbeiten im Sinne der Orthodoxie
Nachdem wir gesehen haben wie sich der christliche Kanon innerhalb der ersten vier Jahrhunderte herausgebildet hatte und in welch unerschütterlicher Treue die Alte Kirche stets an der vorchristlichen Überlieferung von „Gesetzt und Propheten“ festhielt, soll es nun um die Frage nach dem bibeltheologischen Arbeiten in der Orthodoxie gehen.
Konstantinos Nikolakopoulos beschreibt in seiner Einführung die auseinanderdriftenden Wissenschaftskonzepte der Kirche im Westen und Osten. Einerseits entwickelte sich im Westen ein starkes Interesse an einer geschichtlichen Betrachtung der biblischen Texte, welche nach dem „Sitz im Leben“ der Überlieferung fragte und aus welcher sich die historisch-kritische Forschung entwickelte. Dabei geht es um Fragen nach archäologischen und außerbiblischen Funden, um eine Einordnung der biblischen Ereignisse auf einer Zeitleiste, um Textkompositionen und Redaktionsstufen, um ursprüngliche Textvarianten und spätere Hinzufügungen, usw..
Im Osten, hat die „geschichtliche Betrachtung“ allerdings eine ganz andere Bedeutung. Während der Westen unter dem Begriff „Geschichte“ die historischen Ereignisse versteht, deutet der Osten den Begriff der „Geschichte“ im Sinne von Heilsgeschichte. Der Zeitenlauf wird hier nicht linear, sondern räumlich verstanden. Heilsgeschichte wird zum Zeitraum des Mysteriums. So offenbart sich der ewige Gott im Wort der von Menschen verfassten Schriften des Alten und Neuen Testamentes. Während die Heilsgeschichte an sich den Kategorien des Historischen entzogen ist, ist das geschriebene Wort, doch „unter den Bedingungen von Raum und Zeit entstanden“, daher „bedarf die Heilige Schrift immer neu der Auslegung im Lichte des sich wandelnden Welt- und Menschenverständnisses, damit sie die jeweils nachwachsende Generation erreichen und dauernd der modernen Welt entsprechen kann.“
Während die westliche Theologie mehr auf das menschlich Historische ausgerichtet ist, orientiert sich die östliche Theologie eher am übernatürlich Göttlichen. Damit läuft der Westen stets Gefahr, in seiner historischen Betrachtung die Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens zu übersehen, während der Osten immer in der Gefahr steht historische Tatsachen schlicht zu übersehen oder zu ignorieren.
Aus diesen beiden Konzepten ergibt sich die Differenz, dass sich der westliche (protestantische?) Theologe tatsächlich der heiligen Schrift rein wissenschaftlich nähern kann, ohne dabei nach der Heilsökonomie des Wortes fragen zu müssen. Für den östlichen Theologen (und meiner Ansicht nach auch für den Katholiken) wäre eine solche strikte Trennung unmöglich.
Nikolakopoulos hält diese unterschiedlichen Wissenschaftskonzepte nicht für unvereinbar. Gerade im Hinblick auf die Ökumene fordert er ein stärkeres akademisches aufeinander Zugehen. Dabei würdigt er einerseits die unbestreitbaren Verdienste der historisch-kritischen Methode , warnt andererseits allerdings auch von der Verunsicherung welche diese bei nicht wenigen Gläubigen auszulösen vermag.
Der orthodoxe Theologe fasst die unterschiedlichen Wissenschaftsmodelle in folgendem Satz zusammen: „Die westliche historisch-kritische Forschung arbeitet im Großen und Ganzen analytisch, während die östliche Schriftauslegung mehr einen synthethischen Charakter besitzt.“
Zu einem ähnlichen Schluss kommt Karl Christian Felmy wenn er zusammenfasst, dass sich die Stärke und Schwäche der westlichen Theologie in ihrer starken Differenzierung zeige, während Stärke und Schwäche der östlichen Theologie in ihrer Ganzheitlichkeit liege.
Wenn ein östlicher Theologe einen Bibeltext auslegt, so ist er sich stets bewusst, dass dies nur im ekklesialen Rahmen geschehen kann, welchem er sich auch persönlich verpflichtet wissen muss. Da die Bibel der Kirche nicht vorausgeht, sondern ein Buch der Kirche ist, gilt auch für die exegetische Arbeit, dass die Kirche der geistige Schoß ist, aus dem alles christliche Leben (auch die Schrift) hervorkommt.
Die ganze Bibel ist nach orthodoxer Auffassung vom Hl. Geist inspiriert. Darunter versteht der orthodoxe Theologe jedoch keine Verbalinspiration, weder der genau Wortlaut , noch die sprachliche Gestaltung des Textes umfassen die Inspiration. Wortlaut und Textgestaltung sind für die Orthodoxie von Menschen gemacht. Die Inspiration des Geistes liegt allein im Sinngehalt des Textes.
Wer also nach orthodoxem Verständnis einen Text auslegen und dessen Sinngehalt erfassen will, muss sich zunächst innerhalb der Kirche formen lassen, dies geschieht insbesondere durch die Teilhabe am liturgischen Leben der Kirche. Eine derart durch die Liturgie gebildete und geformte Persönlichkeit kann den Sinngehalt des Textes nun den Gläubigen erschließen.
Dabei wird der orthodoxe Theologe seine Erkenntnisse stets an der ununterbrochenen Tradition der Kirchenväter, den lebendigen Zeugen der apostolischen Überlieferung, reflektieren, und wie diese, die Hl. Schrift als unausgeschöpfte Schatzkammer des geistlichen Lebens nutzen.
Die Werke der Kirchenväter gelten der Orthodoxie als lebendiges Band zwischen Schrift und Tradition. Eine solche Orientierung an den Vätern meint natürlich nicht, diese kopieren oder ihnen in allen Punkten zustimmen zu müssen, doch geben die Väter den Orientierungsrahmen, in welchem der überlieferte Glaube der Kirche zu fassen ist. Die Vätertexte dürfen das theologische Denken nicht ersetzen, sondern sollen zum Prüfstein jeden theologischen Arbeitens herangezogen werden. In diesem Sinne heißt es bei Gregor von Nyssa:
„Wir machen das Gesagte nicht zum Dogma, damit wir den Verleumdern keinen Anlass geben; wir geben dennoch zu, dass wir durch die vorliegenden Gedanken nur unseren eigenen Geist einüben, ohne eine exegetische Lehre den zukünftigen Exegeten hinterlassen zu wollen.“
3.Die allegorisch-typologische Methode der altkirchlichen Exegese
Die Väter hatten kein sonderliches Interesse daran die Schrift dem Buchstaben nach einer philologischen Interpretation zu unterziehen. Da sie die Schrift im Ganzen und speziell das Neue Testament als authentischen Ausdruck des christlichen Kerygmas verstanden, bedeutet Exegese somit den Glauben der Kirche (die apostolische Überlieferung) von der Häresie abzugrenzen. Es ging ihnen nicht darum die Bibel fortzuschreiben, sondern deren Sinngehalte fortlaufend im Licht des christlichen Glaubens neu zu interpretieren und damit das darin verborgene Mysterium (Heilsgeheimnis / Sakrament) stets neu erfahrbar werden zu lassen.
Dabei haben sie alle in ihrer Zeit zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Mittel, Informationen und Arbeitsmethoden verwendet. Genauso ist sich die orthodoxe Theologie unserer Zeit bewusst, dass es eine extreme Schlussfolgerung wäre, wollte man behaupten, dass sich die Exegese mit der Auslegung durch die Väter bereits erschöpft hätte. Orthodoxe Exegese ist kein Beharren auf den Auslegungsvorschlägen der Väter, sondern ein Eintauchen in deren hermeneutischen Geist.
Auch wenn die antiochenische Schule sich ausführlich mit dem Literalsinn (also der wörtlichen Bedeutung eines Wortes oder Textes) beschäftigte, so wurde doch bald klar, dass der Sinn der Hl. Schrift als ganzer doch auf diese Weise nicht hinreichend erfasst werden konnte.
Daher griffen die Väter auf eine philosophische Methode zurück, sie begannen die biblischen Texte typologisch zu lesen und orientierten sich hierbei an Platon, welcher vom Urbild und vom Abbild, beziehungsweise von der tatsächlichen Gestalt und dessen Schatten ausging. Auf diese Weise konnten Texte von ihrem Literalsinn gelöst und miteinander in Bezug gesetzt werden. Somit konnten zwei Texte, die eigentlich keinen Bezug zueinander hatten, in einem gemeinsamen Verstehenszusammenhang erscheinen, in welchem sie sich gegenseitig interpretierten. Auf diese Weise wurden insbesondere Texte oder Personen des Alten und des Neuen Testamentes miteinander in Bezug gesetzt. Der verbindende Punkt war der Glaube an Jesus Christus, der eine Text wurde so als Verheißung und der andere Text als dessen Erfüllung gelesen. Andererseits wurden die Heilsereignisse des Alten Bundes auch zum Beweis der Verheißungen und Ereignisse des Neuen Bundes und schließlich konnte sich das Gottesvolk aus den Völkern in Kontinuität mit dem Gottesvolk aus dem Samen Abrahams verstehen. „Nach einem Wort des Origenes (Jos. 9,8) ist es Christus, der uns das Alte Testament liest und uns zum Evangelium macht“. Der typologischen Methode kommt zugute, dass viele Texte des Neuen Testamentes selbst mit dieser gestaltet wurden (z.B. Reflexionszitate bei Matthäus) und so die Typologie nicht als heidnische Philosophie, sondern als biblische Methode verstanden werden konnte.
Mit dem Theologen Origenes (185-254 n. Chr) kam noch eine weitere Methode der altkirchlichen Exegese hinzu, die allegorische Auslegung (etwas auf andere Weise sagen). Hierbei geht es darum den „tieferen Sinn“ eines Textes zu erfassen. Diese Methode bezieht sich vor allem auf die alttestamentlichen Texte, welche nun, im Licht des Christentums, in ihrem tieferen Sinn verstanden werden konnten. Auch diese Methode, welche sowohl von Christen, als auch von Juden für die Exegese übernommen wurde, stammt ursprünglich aus der griechischen Sprachwissenschaft. Dies war insofern leicht möglich, da auch der Apostel Paulus, z.B. im Galaterbrief (4,24-26) mit dieser Methode anhand der Genesis arbeitete. Um willkürliche Auslegungen nun jedoch zu vermeiden, mussten allegorische Interpretationen immer wieder am überlieferten Glauben der Apostel gemessen werden (also im ekklesiologischen Kontext verankert bleiben). Der Hl. Augustinus wird nicht müde, stets dazu zu mahnen Texte nicht fleischlich (wörtlich), sondern geistlich (allegorisch) zu verstehen.
Im Mittelalter wird den drei Textebenen (wörtlich, typologisch, allegorisch) nun noch eine vierte zur Seite gestellt, die Anagogie. Während die erste Ebene versucht den Text als solchen zu erfassen, bemühen sich Typologie und Allegorie ihn im Sinne des christlichen Glaubens für das geistliche Leben zu erschließen und schlussendlich versucht der anagogische Sinn den darüberhinausgehenden Hoffnungsgehalt des biblischen Textes zu eröffnen.
4.Abschließende Beispiele liturgischer Exegese
A)Die Ikone der Verklärung
Karl Christian Felmy bemüht sich darum, das Denken der Orthodoxie nicht nur durch theologische Texte zu vermitteln, sondern auch durch die liturgische Kunst des Ostens. So benennt er als schönes Beispiel der theologischen Betrachtung das aus dem 6. Jahrhundert stammende Mosaik aus dem Katharinenkloster auf dem Berg Sinai.
Das Bild zeigt die Darstellung der Verklärung Christi. Im Zentrum steht Christus, dieser ist in dunkles Licht gehüllt, welches nach innen immer dunkler wird und nach außen stetig mehr an Licht gewinnt. Zu Füßen Jesu sitzen die Apostel Petrus, Jakobus und Johannes. Links und rechts von Jesus stehen Mose und Elias.
Das stetig dunkler werdende Licht im Zentrum des Bildes verweist auf die völlige Unerkennbarkeit des göttlichen Wesens, welches uns nur durch das Antlitz Christi zugänglich wird. Um Gott zu erkennen, muss man wie Mose (Buch Exodus) ins dunkle Licht hineingehen, ein Mystiker werden. Gregor von Nyssa bezeichnet Mose als das Urbild aller Mystiker.
Da das Wesen des Vaters nur durch das Antlitz Christi gefunden werden kann, bedarf es eines Zugangs, um Christus zu finden. Und auf dem Mosaik sehen wir, dass der weißgewandete Christus, im Zentrum der Dunkelheit stehend, breite Lichtbänder von sich ausstrahlt und auf die biblischen Gestalten treffen lässt. So ist es Mose, der für das Gesetz (Tora) steht und Elia, welcher die Propheten verkörpert und es sind die Apostel, welche für Evangelium und Epistel stehen. Um Christus zu finden, bedarf es also, wie die Väter immer wieder erwähnen, des Zeugnisses der Propheten und Apostel.
Origenes (1Praefatio4) „In der Kirche wird jedenfalls ganz klar verkündigt, dass dieser Heilige Geist einen jeden heiligen Propheten und Apostel inspiriert hat und dass kein anderer Geist in den Alten war als in denen, die bei der Ankunft Christi inspiriert wurden.“
Oder beim gleichen Autor (Jeremiam frg.21,2) „ Und es gibt nichts in der Prophetie oder im Gesetz oder im Evangelium oder beim Apostel, was nicht aus der Fülle stammt.“
Der Neutestamentler Klaus Berger hält den Bericht des Markusevangeliums über die Verklärung Christi für die Mitte des Evangeliums, welche durch den Evangelisten unter Vorlage von Mose auf dem Sinai nachgebildet wurde. Daher kennen beide Erzählungen den Abstand von sieben Tagen, den Berg, die reduzierte Jüngerschar, die Himmelsstimme und die Wolke. An der Stelle der Übergabe der Gebote heißt es konsequent im Evangelium: „Diesen sollt ihr hören“. Somit formt Markus eine evangelische Identität zwischen der Tora (Gesetz) und dem Sohn (Wort).
„Die Verklärung ist daher nicht irgendein abwegiges mystisches Geschehnis am Rande, sondern der zentrale Ort der Selbsteröffnung Gottes, hier erscheint sein Wille, hier wird höchste Verbindlichkeit eingefordert. Sie ist daher die Mitte des Evangeliums nach Markus, die Achse, um die sich alles dreht. Dafür legt die berühmte Verklärungsikone der Ostkirche Zeugnis ab.“
Wenn wir nun noch einmal auf die Darstellung der Verklärung blicken, fällt uns auf, dass die beiden Gestalten des Alten Testamentes stehen, während die drei Jünger des neuen Testamentes knien oder sogar liegen. Ist damit ein Vorrang (oder eine größere Bedeutung) des Alten Testamentes ausgedrückt? Die Verunsicherung der Apostel, die voll Furcht und Schrecken auf ihr Angesicht fielen, zeigt sich nun in der Absicht des Petrus, Hütten zu bauen.
Damit sind keine Unterkünfte für Mose, Elia und Jesus gemeint, sondern Lehrhäuser. Der Irrtum des Petrus besteht darin die Lehrautorität Jesu mit der des Mose und des Elia gleichzusetzen.
Nun wird Petrus durch die Himmelsstimme korrigiert: Dies ist mein geliebter Sohn auf ihn sollt ihr hören! Hier ist einer, der mehr ist als Mose (Tora) und Elia (Propheten). In der Verklärung tritt Jesus selbst aus dem dunklen Licht Gottes in den Strahlenkranz der Verklärung. Damit wird das Alte Testament in keinem Jota relativiert, doch kann es von nun an nur mehr im Lichte Christi (wie auch der Apostel und das Evangelium) gelesen werden. Berger betont, dass es sich nicht um einen neuen Bund handelt, sondern um die Erneuerung, um die Vertiefung des einen Bundes.
B)Die Schrift in der Feier der Heiligen Liturgie
Der große orthodoxe Theologe Alexander Schmemann beschreibt die Rolle der Schriftlesung während der heiligen Liturgie. Dabei nimmt er sowohl auf die Schriftlesung an sich, als auch auf die Auswahl der Perikopen Bezug.
Eingehend zitiert er den Märtyrer Ignatius (Apologie I, 67.3-5): „ Am Sonntag versammeln sich alle und lesen aus den Überlieferungen der Apostel oder den Schriften der Propheten solange es die Zeit erlaubt. Sobald der Leser geendet hat, ruft der Vorsteher zur Nachahmung dieser edlen Dinge auf.“ Es folgen Gebet und Eucharistiefeier.
Schmemann verweist auf den inneren Zusammenhang von Schriftlesung und Eucharistiefeier von Anfang an und beklagt, dass vielen Gläubigen dieser Zusammenhang heute nicht mehr recht geläufig ist. Dies sei eine Folge der divergierenden Theologie des Westens, welcher den geistlichen Zusammenhang in die Einzelkategorien von Wort und Brot aufgespalten und so zu einer zentralen Schwäche der Sakramententheologie geführt habe. Diese Spaltung könnte nach dem orthodoxen Theologen dadurch überwunden werden, dass wir künftig vom Sakrament des Wortes sprechen.
Im Folgenden beschreibt der Theologe den „kleinen Einzug“, welcher auch als „Einzug des Evangeliars“ beschrieben wird. Schmemann verweist darauf, dass es sich hier um kein ursprüngliches Element der Liturgie handelt, sondern um eine spätere Umformung. Ursprünglich hätten die Geistlichen allein zur Darbringung der Eucharistie den Altarraum betreten und wären während des ganzen übrigen Gottesdienstes auf der Vima (unter dem Volk) geblieben. Mit dem Verschwinden des ursprünglichen Einzugs in die Kirche und auch der Vima, entwickelte sich der Brauch, das Evangeliar auf dem Altar abzulegen. Nach orthodoxem Verständnis ist hierbei weniger der Schrifttext, als vielmehr das Buch an sich von Bedeutung, handelt es sich doch um eine „Ikone der Auferstehung“. (Deshalb trägt nicht der Priester, sondern der Diakon das Buch und liest daraus vor.)
Es stimmt nicht, dass die alttestamentlichen Lesungen gänzlich aus der orthodoxen Liturgiefeier verschwunden sind, weshalb an dieser Stelle mehrere Gesänge aus den Psalmen erklingen, aus dem Gebetbuch Jesu selbst. Die Psalmen sollen nicht nur die Ohren, sondern auch die Herzen der Gläubigen öffnen, damit, so vorbereitet, das Evangelium auf fruchtbaren Boden fallen kann.
Dass während der Eucharistiefeier im byzantinischen Ritus heute, im Gegensatz zur Antike keine alttestamentlichen Lesungen mehr vorgetragen werden, hält Schmemann für ein gravierendes Problem. Eine Erneuerung des Lektionars könnte dazu beitragen, die erschreckende Unkenntnis der hl. Schrift unter orthodoxen Christen zu beheben.
Eine ältere, womöglich sogar die ursprüngliche Form, hat sich im ostsyrischen Ritus gehalten, hier werden jeweils zwei alttestamentliche Lesungen, eine Epistel und das Evangelium vorgetragen. Der koptische Ritus hat die alttestamentlichen Lesungen, zwar wie in Byzanz in das Stundengebet verschoben, stattdessen jedoch eine Lesung aus den Heiligenviten hinzugefügt.
C)Der Tabot im äthiopischen Ritus
Während byzantinische Priester die Eucharistie auf dem Antimension feiern (die westlichen Priester traditionell auf den Reliquien der Märtyrer und Heiligen), welches die Einheit zwischen Ortskirche, Bischof und zelebrierendem Priester symbolisiert, kennt der äthiopische Ritus etwas Ähnliches und doch ganz Anderes, den Tabot . Beim Tabot handelt es sich um eine symbolische Nachbildung der Bundeslade. Der Tabot besteht aus einer Holztafel (mancherorts auch aus Stein), auf welcher traditionell neben dem Dekalog auch Verse aus dem Matthäusevangelium eingraviert sind (auch das Patrozinium der jeweiligen Kirche kann vermerkt sein). Jede Eucharistiefeier muss auf einem Tabot dargebracht werden. Der Tabot gilt als Thron Gottes und Quelle des Gesetzes, auf welchem der Herr mystisch gegenwärtig sei. Da der Tabot von den Gläubigen nicht gesehen werden darf, wird er stets in Tücher gehüllt und doch bei Prozessionen mitgetragen und dem Volk in verhüllter Weise gezeigt. Durch die Schöpfung hat Gott der überzeitlichen Tora, dem Tabot, dem Gesetz, einen Standpunkt verliehen. Nach diesem himmlischen Urbild konnte Mose ein irdisches Abbild (die Bundeslade mit den Gesetzestafeln) schaffen. Nach äthiopischer Überzeugung wird diese Bundeslade bis heute in der Kirche Maria Zion in Aksum aufbewahrt. Die Feier der Liturgie auf dem Tabot ist somit nicht nur Realisierung der Tora, sondern auch Mitwirkung der Kirche an der Schöpfung bis hin zu deren Vollendung.
D)Die Anaphoren von Johannes Chrysostomus und Basilius dem Großen
Nachdem der Priester in der „Chrysostomus-Liturgie“ die Epiklese (Herabrufung des Hl. Geist) über die Gaben von Brot und Wein gesprochen hat, bittet der Diakon stellvertretend für alle Anwesenden: „Gedenke, heiliger Gebieter, meiner des Sünders.“
Daraufhin betet der Priester: Gott möge seines Dieners gedenken, allezeit, jetzt, immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der Gläubige wird hineingenommen in die Gemeinschaft der Himmel, in die überzeitliche Königsherrschaft Gottes. Er wird ins Gebet genommen und eingereiht in die Gemeinschaft der Patriarchen, Propheten, Apostel, Evangelisten und Märtyrer. Damit wird der einzelne Gläubige hineingenommen in die überzeitliche Gemeinschaft mit den biblischen Gestalten des Alten und Neuen Testamentes, sowie mit den Glaubenszeugen aller Zeiten. Hier werden die Feier der Eucharistie, die Inspiration durch den Geist, die Heilige Schrift im Alten und Neuen Bund, sowie die Heiligen aller Zeiten und die Gläubigen unserer Tage aufs Innigste miteinander verwoben und der einzelne Gläubige in einen wahrhaft ekklesiologischen Kontext von Schrift, Sakrament und Martyrium gestellt.
Noch deutlicher bekennt sich die Basiliusliturgie:
„Schau auf uns, o Gott, und schaue auf unsere Liturgie, nimm sie an, wie du die Gaben Abels, die Opfer Noahs und Abrahams, die priesterlichen Dienste von Mose und Aron, das Friedensopfer Samuels, die Buße Davids und das Rauchwerk Zacharias; wie du die wahre Liturgie aus den Händen der Apostel angenommen hast, so nimm auch diese Gaben aus unseren sündigen Händen in deiner Güte an.“
Und in der Anaphora selbst:
„… du hast durch deine Propheten gesprochen, uns das Gesetz zur Hilfe gesandt …, als aber die Fülle der Zeit kam, hast du zu uns durch deinen Sohn selbst gesprochen…“
So erschließt die Schrift die Liturgie und die Liturgie die Schrift.
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Redaktion: Klaus Mass, Kapellenstraße 7, 85254 Einsbach, pfarramt-christ-katholisch@web.de
Namentlich gekennzeichnete Artikel müssen nicht unbedingt die Lehrmeinung der Kirche wiedergeben.
Leserbriefe sind stets erwünscht.
Ursprünge des Altkatholizismus (8.Teil / Schluss)
Die Bischöfe Konstitutionskirche
Vorlesung von Mag. theol. Günther Thomann ThD (Hon)
Dozent für Kirchengeschichte am neuen Studienhaus St. Benedikt - Anglikanisch- Theologisches Seminar, Schwarzenborn (www.benedikt-seminar.de) und Pfarrer der anglikanischen Mission „King Charles the Martyr“ in Nürnberg. Zuletzt erschien von Günther Thomann, gemeinsam mit Arne Giewald: The Lutheran High Church Movement in Germany and its Liturgical Work, bei LuLu.
Bischof Charles- Maurice de Talleyrand-Périgord
Talleyrand entstammte einer alten, einflußreichen Adelsfamilie und wurde am 2. Februar 1754 in Paris geboren. Sein Onkel, Charles –Antoine de la Roche-Aymon war von 1763-1777 Erzbischof von Reims und damit der Primas Galliae. Talleyrand littzeitlebens unter einem Klumpfuß und wurde von seiner Familie für den geistlichen Stand bestimmt, was er als Zwang empfand und haßte- eines der großen Probleme der Kirche dieser Zeit, daß Personen in den geistlichen Stand gezwungen wurden, für den sie weder Berufung noch Eignung hatten. Dassollte sich im Falle Talleyrands rächen. 1775 wurde er, noch als Diakon, Chorherr von Reims und assistierte als Diakon seinem Onkel, der am 11. Juni 1775 in Reims die Königskrönung an Ludwig XVI.vollzog. Sein Vater war im Gefolge, das die heilige Ampulle mit dem Salböl des hl. Remigius (inder Revolution zerstört) trug. 1778 wurde Talleyrand Lizentiat der Sorbonne und besuchte den Aufklärer Voltaire. 1779 wurde er zum Priester geweiht und kurz darauf Generalvikar von Reims. Eine glänzende kirchliche Karriere stand ihm offen. 1780 wurde er, erst 26 Jahre alt, ‚Agent général duclergé de France‘, also der Konvokation. Als Ludwig XVI. immer tiefer in Geldnot kam, sollte Talleyrand als Agent général die Güter der Kirche schützen, was er nicht tat. Stattdessen besorgte erdem König eine erhebliche Geldsumme, was ihm den Zorn des Klerus einbrachte. Talleyrand verkehrte in liberalen Kreisen und zog sich dabei die Abneigung der Parteigänger der Königin Marie Antoinette zu, was seine Berufung zum Bischofsamt verzögerte. 1788 wurde er schließlich Bischof von Autun, in dessen Kathedrale sich das berühmte Lazarusgrab befand (in der Revolution zerstört).
Lazarus soll der Legende nach mit Maria Magdalena auf Missionsreise nach Gallien gegangen und dort gestorben sein- eine von den vielen mittelalterlichen Gründungslegenden. Kurz nach seiner Bischofsweihe verließ Talleyrand Autun, um an der Versammlung der Generalstände in Paris teilzunehmen, die ja am 5. Mai 1789 eröffnet wurde. Die Deklaration der Bürger-und Menschenrechte unterschrieb er und brachte am 10. Oktober 1789 den berühmten Gesetzentwurf der Verstaatlichung derKirchengüter in die Nationalversammlung ein. Daraufhin wurde er vom übrigen Klerus als Apostat bezeichnet. Talleyrand zerstörte im Grunde die Kirche von innen heraus. Nachdem er die Zivilkonstitution als einer der fünf Bischöfe schon im Dezember 1790 unterschrieben hatte, gab er im Januar 1791 sein Bischofsamt auf. Die Aufgabe seines Amtes wurde nur dadurch verzögert, daß sich für die Kandidaten der Konstitutionskirche keine Bischöfe zur Weihe bereitfanden. Er mußte mit Gobel und Miroudot de Bourg die ersten Bischofsweihen selbst vornehmen, worauf Pius VI. ihm, seinen assistierenden und von ihm geweihten Bischöfen in seinen beiden Breven die Exkommunikation androhte. Als sich 1792 die Revolution radikalisierte, war Talleyrand Botschaft er in England. Nach den Septembermassakern 1793 in Paris blieb er in Großbritannien, doch Georg III. ließ ihn 1794 ausweisen, worauf er in die USA floh. Nach dem Ende des Terrors wurde er 1795 rehabilitiert. Am Direktorium von 1796 nahm er Teil, nach dem Napoleonischen Konkordat 1801 wurde er 1802 endgültig laisiert. Als Diplomat hatte er großes Geschick und überlebte mehrere Systeme, so daß er Frankreich sogar auf dem Wiener Kongress vertrat. Erst auf dem Sterbebett wurde er mit der Kirche versöhnt. Er starb am 17. Mai 1838 in Paris. Als Priester war Talleyrand eine Katastrophe, als Diplomat ein Genie. Seine Biographie ist exemplarisch für die Probleme seiner Zeit, in der zahllose Priester, Ordensleute und auch reformierte Geistliche ihr Amt aufgaben. Europa unddie Kirche gerieten in die Krise!
Bischof Henri Grégoire
Bedeutender für die Entwicklung und Konsolidierung der Konstitutionskirche wurde ihr eigentliches Haupt und ihr Vordenker, der Abbé Grégoire. Henri Jean-Baptiste Grégoire wurde am 4. Dezember 1750 in Vého, im französischen Teil Lothringens, als Sohn eines Schneiders geboren. Als seine große Begabung entdeckt wurde, sandte man ihn ans Jesuitenseminar in Nancy, das er von 1763-1768 besuchte. Dort wurde er mit den Ideen der Aufklärung bekannt. Zum Studium ging er an die neugegründete Universität Nancy, wo einer seiner Lehrer, Antoine-Adrien Lamourette (1742-1794), war, der später Konstitutionsbischof von Lyon wurde und unter der Guillotine starb. Von 1769 bis 1771 studierte Grégoire in Nancy Philosophie und Theologie und parallel dazu im Priesterseminar in Metz, welches von den Lazaristen, dem Orden St. Vincent de Pauls, geleitet wurde. Er nahm eine Zeit Urlaub vom Seminar und pflegte seine Begabung für die Poesie; schon mit 23 Jahren erhielt er einen Preis der Akademie von Nancy für sein Buch über Dichtkunst. Zurück im Seminar wurde er am 1. April 1775 in Metz zum Priester geweiht. Seine Seminarzeit war nicht frei von Zweifeln, bedingt durch die Philosophie der Aufklärung. Nach seiner Weihe diente er in der Landpfarrei Chateau-Salins als ‚Vicaire‘ (Kaplan), erst 1782 erhielt er die Pfarreien Emberménil und Vaucourt, dank der Fürsprache eines seiner früheren Professoren. Unermüdlich arbeitete er an der Fortbildung seiner Pfarrkinder, versuchte auch, ihre landwirtschaftlichen Methoden zu verbessern (was im 18. Jahrhundert keineswegs so selten war!). Er errichtete eine Bibliothek mit praktischen Büchern für seine Landpfarrei, freundete sich mit dem Pastor Johann Friedrich (Jean-Frédéric) Oberlin (1740-1821) an, mit dem er ein Volksbildungsprogramm für die Landbevölkerung entwarf- Ökumene im Geiste der Aufklärung. Er lernte Englisch, Italienisch, Spanisch und etwas Deutsch, um die neuesten Ideen der Aufklärung verstehen zu können und orientierte sich an den demokratischen Idealen der Schweiz. Dabei freundete er sich mit Johann Kaspar Lavater (1741-1801, Pastor in Zürich) und Johannes Gessner(1709-1790), den Schweizer Mathematiker, Botaniker und Mineralogen an, die ihn auch in seinen landwirtschaftlichen Projekten unterstützten. 1776 trat er der ‚Société philanthropique et charitable‘ (‚ Philanthropische und wohltätige Gesellschaft`) in Nancy bei, die Verbindungen nach Deutschland und zur Freimaurerei hatte. Deutsche Pietisten, französische politische Freimaurer und Anhänger des Gallikanismus und Anti-Ultramontanismus arbeiteten Hand in Hand- kein Wunder, daß diese Organisationen und Ideen in der Restauration so negativ bewertet wurden. Er trat auch einer entsprechenden Gesellschaft in Straßburg bei, die für alle Konfessionen offen war. Die ‚Philanthropische Gesellschaft in Straßburg‘ setztesich besonders für eine Verbesserung der Stellung der Juden ein. 1787 erhielt er einen Preis der Akademie von Metz für sein Buch über dieses Problem. Diese gelehrten und kunstinteressierten Akademien waren für die Verbreitung der Aufklärung von größter Bedeutung! Grégoire glaubte, durch eine Besserstellung der Juden ihre Bekehrung zu erreichen. Die Bekehrung der Juden war ein wichtiges Thema im Pietismus und Jansenismus, unterstützt von einer apokalyptischen ‚figuristischen‘, also anti-allegorischen Exegese, erwartete mandoch durch ihre Bekehrung die Wiederkunft Christi. Bereits 1787 forderte der Klerus Lothringens eine bessere Bezahlung, an Stelle der Bischöfe und Chorherren, die viel zu hohe Einkommen hatten. 1788trafen sie sich mit Vertretern des Dritten Standes im Rathaus von Nancy. Die lothringischen Priester forderten die Gleichsetzung mit dem Dritten Stand, aus dem sie in der Regel auch stammten, und verbanden ihre Forderungen mit denen des Dritten Standes. Das war schon das Vorfeld der Revolution. Der Protest des niederen Klerus hatte sich schnell verbreitet, er war von gallikanisch-richeristischen und aufklärerischen Ideen inspiriert.
Die Ideale der Demokratie fanden schon Wiederhall. Der niedere Klerus fühlte sich nicht nur schlecht bezahlt und zurückgesetzt, er hatte auch die Hauptlast im Kampf gegen Atheismus und Antiklerikalismus zu tragen, die sich in dieser Zeit bereits deutlich spürbar gemacht hatten. 1789 wurde Grégoire Vertreter des Klerus, als des Ersten Standes, auf der Versammlung der Generalstände und zu einem der Sekretäre der Versammlung gewählt. Auf dieser Versammlung wurde Grégoire einer der ersten Geistlichen, die dem Dritten Stand beitraten, nachdem Adel und höherer Klerus die Versammlung verlassen hatten. Erarbeitete an der Zivilkonstitution mit und galt hinfort als Haupt der Konstitutionskirche. Er war der erste Priester, der den Eid auf die Zivilkonstitution leistete und er hielt noch auf dem Sterbebett daran fest. Zwei der neugeschaffenen Départements wählte ihn zum Bischof, Sarthe und Loir-et-Cher (1791). Er entschied sich für Letzteres und wurde am 14. März 1791 von Talleyrand, Gobel (er wurde 1791 Konstitutionsbischof von Seine d.h. Paris) und Miroudot de Bourg zum Bischof geweiht und nahm den Titel ‚Bischof von Blois‘ an.
Der Bischof von Blois, der den Eid verweigert hatte, Alexandre-Francois de Mazières de Thémimes (Bischof von Blois von 1776 bis 1790) sollte späterin der Petite église eine Rolle spielen, denn er wurde nicht weniger als dreimal aus seiner Diözese gedrängt. 1793/94 kämpfte Grégoire für die Abschaffung der Sklaverei, was zum Erfolg führte. Die Farbigen in den Kolonien bekamen Bürgerrecht, doch Napoleon führte 1802 die Sklaverei wieder ein. Das Département Loir-et-Cher wählte Grégoire auch zum Abgeordneten der Nationalversammlung. Auf ihrer ersten Sitzung am 21. September 1792 forderte er vehement die Abschaffung der Monarchie. Bei der Abstimmung über das Todesurteil über Ludwig XVI. war er allerdings (bewußt oder zufällig?) nicht anwesend, sondern hielt sich in Savoyen auf, das seine Wiedervereinigung mit Frankreich feierte. 1801, anläßlich des Napoleonischen Konkordats, wurden die Konstitutionsbischöfe heftig wegen des Königsmordes angegriffen, obwohl nicht alle für das Todesurteil gestimmt hatten. Aus Grégoires Tagebüchern ist zu entnehmen, daß er wohl innerlich mit dem Todesurteil über den ‚Tyrannen‘ einverstanden war, ansonsten hatte er für die Abschaffung der Todesstrafe gekämpft. Das düstere Bild, das die Folgezeit über die Konstitutionskirche malte, war nicht zuletzt von den Ideen der Restauration und des Ultramontanismus bestimmt.
Ab 1790 kämpfte Grégoire für die Abschaffung der Dialekte und Regionalsprachen, die er als Hindernis für den Fortschritt der Landbevölkerung und die Einheit der Nation sah. 1794 hatte er damit Erfolg, die intolerante Sprachpolitik Frankreichs begann. War Grégoire den Farbigen gegenüber tolerant, den Minderheiten im eigenen Land, die sich ja oft gegen die Revolution gestemmt hatten, war er es nicht! Für Grégoire war die französische Sprache die Sprache der Freiheit; die Zentralisation unterstützte er, die Sprache hatte dazu beizutragen. 1790 war Grégoire Mitglied der Konstituante, die die Verfassung ausarbeiten sollte. Diese sollte auf der Basis der Deklaration der Bürger-und Menschenrechte basieren. Die Schändung der Basilika von St. Denis, deren Königsgräber aufgebrochen wurden, bekämpfte er mit dem Argument, daß sie Teil der Geschichte Frankreichs wären. In den Jahren des Terrors zeigte er sich tapfer: Er trug weiter seine geistliche Kleidung in der Nationalversammlung und wandte sich vehement gegen die Entchristlichung des Landes. Grégoire wurde mehrfach festgenommen, trug aber weiterhin seine Bischofskleidung auf der Straße und las täglich dieMesse. Am 24. Dezember 1794, nach dem Sturz Robespierres und seiner Anhänger, hielt er eine Rede über die Kultusfreiheit in der Nationalversammlung und forderte die Wiederöffnung der Kirchen. Zur selben Zeit gründete er mit drei weiteren Konstitutionsbischöfen, Jean-Baptiste Royer (1733-1807, seit 1798 Konstitutionsbischof von Paris; er nahm 1801 das Konkordat an und wurde Chorherr in Besancon), Jean-Baptiste Saurine (1733-1813, Konstitutionsbischof von Laudes, nach dem Konkordat Bischof von Straßburg) und Debois die Gruppe der ‚Éveques réunies à Paris‘ (‚Wiedervereinigte Bischöfe von Paris‘), die die Konstitutionskirche reorganisieren und der Entchristlichung entgegenwirken sollten. 1795 gründete er mit zwei Konstitutionsbischöfen (Saurine und Claude Debertier, 1750-1831. Er war Mitglied des Lazaristenordens und wurde 1791 Konstitutionsbischof von Aveyron. Obwohl er das Konkordat von 1801 unterschrieb, wurde er zwar als Priester restituiert, aber wegen seiner jansenistischen Überzeugungen nicht angestellt) die ‚Société libre de philosophie chretienne‘ (‚Freie Gesellschaft derchristlichen Philosophie‘), die das Theologiestudium, das während der Revolution abgeschafft worden war, wiederaufnehmen sollte, die Katechese fördern und dem Rationalismus und Kult des Höchsten Wesens entgegenarbeiten sollten. Zu diesemZweck gründete die Gesellschaft die Zeitschrift ‚Annales de la Religion‘ (‚Jahrbücher der Religion‘), die Napoleon in Folge des Konkordats wegen ihres extremen gallikanischen Tons verbot. Unter dem Direktorium, das nach dem Ende des Terrors errichtet worden war, nahm Grégoire energisch die Reorganisation der Konstitutionskirche in Angriff. 1797 und 1801 hatte die Kirche zwei Nationalkonzilien, sie war also lebendig. Die Unterschrift unter das Napoleonische Konkordat verweigerte Grégoire, er wurde daraufhin zur Abdankung gezwungen, hielt aber weiter an seinem Titel ‚Konstitutionsbischof von Blois‘ fest. 1799 veröffentlichte er ein Buch über die Wiedervereinigung der russischen mit der lateinischen Kirche, 1801 und 1809 kämpfte er für den Erhalt der Ruinen von Port-Royal. Sein Buch ‚Les ruines de Port-Royal de Champs‘ (‚Die Ruinen von Port-Royal de Champs‘) trug wesentlich zur Entstehung des Mythos von Port-Royal bei. Port-Royal galt ihm als ein Zentrum des Intellekts und des Widerstands gegen den Absolutismus.
Grégoire war einer der wenigen permanenten Gegner Napoleons. Er war einer der fünf Senatoren, die sich gegen die Ausrufung des Kaisertums wandten. Er bekämpfte die Schaffung eines neuen Adels ebenso wie die Scheidung Napoleons von Josephine. Trotzdem wurde er Mitglied der Ehrenlegion und 1808 Graf des Kaiserreichs für seine wissenschaftlichen und humanitären Leistungen. Am 1. April 1814 rief Talleyrand, politisch noch hoch aktiv, eine Konvokation zusammen, die die Abdankung Napoleons ausrief- Grégoire war einer der 64 Senatoren. Die Konvokation sollte eine Übergangsregierung und eine verfassungsgebende Versammlung vorbereiten. Bei der Restauration der Bourbonen scheiterte Grégoire ebenso wie eine liberale Verfassung. Das Institut de France wurde ‚gesäubert‘ und Grégoire wurde ausgeschlossen. Schließlich verlor er auch noch seine Pension und lebte in großer Armut. Zum Überleben mußte er seine Bibliothek verkaufen. Der Erzbischof von Paris, Hyacinthe-Louis de Quélen (Erzbischof von Paris von 1821-1839), ein überzeugter Legitimist, machte ihm zur Bedingung, den Eid auf die Zivilkonstitution zu widerrufen. Grégoire weigerte sich. An den Wahlen von 1819 nahm Grégoire für die liberale Partei teil gewann einen Sitz für Isère, wurde aber im November 1819 als angeblicher Königsmörder ausgeschlossen. Da Grégoire sich den Bestimmungen des Erzbischofs von Paris widersetzt hatte, galt er als ein schismatischer Bischof und durfte keinen geistlichen Beistand erhalten. Auch ein Requiem für ihn wurde untersagt. Beides fand dennoch statt und die frühere Abteikirche Abbaye-eaux-Bois wurde danach unter Interdikt gestellt. Grégoire starb am 28. Mai 1831 in Paris.
1989, zur Zweihundertjahrfeier der Revolution, wurden seine sterblichen Überreste ins Panthéon in Paris übertragen. Grégoire war kein sinisterer Verschwörer und Freimaurer, der den Heiligen Vater um seine legitimen Rechte bringen und den König ermorden wollte, sondern ein visionärer junger Priester, der bis zu seinem Ende an seiner Vision festhielt. Sein Wirken hat viel mit den Priestern der Befreiungstheologie Lateinamerikas der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts gemeinsam, aber seine Beschränkungen- die Politisierung der Religion an erster Stelle- hatten sie alle mit den Beschränkungen und Vorstellungen ihrer Zeit gemeinsam.
Bischof Guillaume Mauviel
Den dritten Bischof der Konstitutionskirche, den wir uns näher ansehen müssen, ist Guillaume Mauviel, weil angeblich eine geheime Bischöfliche Sukzessionslinie von ihm existiert oder existiert hat. Mauviel stammte aus einer Familie aus Coutances, die in einfachen Verhältnissen lebte, und wurde am 29. Oktober 1757 (nach anderen Quellen: 1759) in Fervanches (Manche) geboren. Nach seiner Priesterweihe in der Diözese Coutances wurde er Kaplan in der Marine und wollte 1782 bereits auf die Antillen, was ihn General d'Estaing verbot. Er verließ dann die Marine, wurde Krankenhauskaplan und schließlich 'vicaire' (Kaplan) in Noisy-le-Sec (Seine). 1791 ging er zur Revolution über, schloss Freundschaft mit Abbé Grégoire und leistete den Eid auf die Zivilkonstitution. Nach dem Ende des Terrors 1794 wurde er Sekretär der 'vier wiedervereinigten Bischöfe' der Konstitutionskirche und schrieb Beiträge für das Journal 'Annales de la Religion'. Als General Toussaint Louverture, der die französischen Truppen im Norden der Insel Saint-Domingue (Hispaniola: heute Haiti und Dominikasche Republik) kommandierte, Bischof Grégoire um Republikanische Priester bat, folgte Mauviel dem Ruf. 1797 wurden vier Konstitutionsbischöfe für die Insel gewählt, darunter Mauviel für die Hafenstadt Aux Cayes, aber nur Mauviel ging tatsächlich nach Saint-Domingue. Am 3. August 1800 wurde er in der Notre-Dame in Paris von den Konstitutionsbischöfen Royer (Paris), Grégoire (Blois) und Debois de Rochefort (Amiens) zum Bischof geweiht. Auf der Insel erwartete ihn nichts Gutes. Seine Position als Konstitutionsbischof war schwach, der größte Teil des Klerus folgte ihm nicht. Von General Toussaint Louverture unfreundlich aufgenommen, mußte er in Santiago, im spanischen Teil der Insel (heute. Dominikanische Republik) residieren. Auf der Insel gab es heftige Rivalitäten zwischen der Spanisch und der Französisch sprechenden Bevölkerung, zwischen Weißen und Farbigen, auch innerhalb der französischen Flotte und Armee. Unter dem Deckmantel des Christentums erblühte die Voodoo-Magie bei den Afroamerikanern (Kreolen). Mauviel versuchte zunächst die Katechese zu verbessern, sowohl in spanischer als auch in französischer Sprache. Die Spannungen zwischen den Weißen und den Farbigen wuchsen ständig. 1801 überschrieb Mauviel das Napoleonische Konkordat und verwaltete inoffiziell eine Zeit lang die Diözese Santiago. 1802 kam es unter Napolean zur Wiedereinführung der Sklaverei. Die Folge war der Aufstand der Kreolen gegen die weißen Kolonialherren unter der Führung der Voodoo-Priester. Im November 1804 erklärte sich die frühere Kolonie als unabhängig und nannte sich Haiti. Die Sicherheitslage für die Weißen wurde nun prekär und im selben Monat zwang General Ferrand Mauviel, die Insel zu verlassen. Eine Flottenexpedition unter General Leclerc, dem Schwiegersohn Napoleons, gegen die Insel blieb erfolglos. Mauviel veröffentlichte später einen Augenzeugenbericht. 1805 erhielt er nach dem Napoleonischen Konkordat als Kompensation die Pfarrstelle von Mantes (Seine-et-Oise). Im 18. Jahrhundert war es zu einem Wiederaufleben des Templermythos in der französischen Freimauererei gekommen, auch Mauviel trat diesem erneuerten Templerorden bei. Aber an diesem Punkt wird die Überlieferung unzuverlässig. Fungierte er als Kaplan der Loge, weihte er Priester und Bischöfe, oder waren es nur Zeremonien zur Erhebung eines freimaurerischen Großmeisters?
Ein eigenwilliges Ritual, das durchaus für Weihen benutzt werden konnte, ist jedenfalls überliefert. Nach der templerischen-freimaurerischen Überlieferung weihte Mauviel am 29. Juli 1810 den Großmeister Bernard-Raymond Fabré-Pelaprat (1775-1838), einen früheren Priester der Diözese Lot, zum Bischof der Èglise Johannite ('Johannische Kirche', nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Gebilde von Joseph Weißenberg in Berlin in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg). Fabré-Pelaprat hatte unter der Zivilkonstitution sein Amt aufgegeben, geheiratet und praktizierte als Arzt. Schließlich brachte er es zum Präsidenten der 'Société Royale Academique des Sciences' ('Königliche akademische Gesellschaft der Naturwissenschaften'). Etliche Priester waren in dieser templerischen Loge, die jetzt zur johanneischen Kirche wurde, versammelt. Aber in der Realität war diese Kirche nie mehr als eine Loge. 1810 wurde Mauviel dann angeblich Primas dieser Johannischen Kirche, verwaltete aber gleichzeitig sein Pfarramt weiter. Da die Loge republikanisch orientiert war, ging sie mit der Restauration der Bourbonen in den Untergrund. Eine Sukzession dieser Bischöfe – Großmeister soll es wenigstens bis Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben haben. Mauviel starb am 5. (nach anderen Quellen: 9.) März1814 auf Schloß Cézy (Yonne), dem Schloß des Generals Desfourneaux.
Einige abschließende Bemerkungen möchte ich zur Konstitutionskirche noch hinzufügen: Die Konstitutionskirche war, ähnlich dem Josephinismus, nur eine kurze, aber einschneidende Episode der Kirchengeschichte (1791-1801) und hinterließ einen zwiespältigen Eindruck. Die Schaffung einer vollkommenen Staatskirche wirkt heute anachronistisch und unrealistisch. Die Verdrängung von legitimen Bischöfen und Priestern aus ihren Ämtern aus politischen Gründen, ein Schisma im Innern der Kirche, die zahlreichen Priester und sogar Bischöfe (Talleyrand, Gobel, Marolles), die ihr Amt anzweifelten, aufgaben oder sogar öffentlich abschworen, die Verbindungen zu Revolution, Jakobinertum und Freimaurerei, das Fortleben der Reste des Jansenismus in dieser Kirche, nicht zuletzt das Todesurteil über Ludwig XVI. - das alles sollte das negative Bild in der Folgezeit prägen. Dennoch war diese Kirche lebendig, sie hat sich um die Katechese und Rechristianisierung Frankreichs verdient gemacht. Ihre Priester waren die ersten, die dem Dritten Stand beitraten – im 19. Jahrhundert bereits eine Selbstverständlichkeit, der Klerus wurde bürgerlich. Sie nahm auch viele Ideen der späteren Altkatholiken vorweg oder beeinflußte sie:
a) Die Bischofs- und Pfarrerwahl durch das Volk, was ja ursprünglich altkirchlich war. In der Konstitutionskirche bedeutete das durch das Volk der Départements, bei den Altkatholiken, besonders den Schweizern, durch die Synode und Pfarreien.
b) Die Beschränkung der Macht des Bischofs durch Bistumsrat und/oder Synode.
c) Der Verzicht auf Domkapitel, Stiftskirchen und religiöse Orden. Nur die Niederländer behielten ihre Kapitel bei, da sie historisch entstanden waren.
d) Die Neigung zum politischen Liberalismus.
e) Die Idee einer Union mit den Ostkirchen.
f) Der Mythos von Port-Royal.
Was sich allerdings nicht in den späteren Altkatholizismus integrieren ließ war der republikanische Gallikanismus – welcher sowohl den verlorenen Krieg Frankreichs gegen Preußen 1870/71, den Sturz des Bonapartismus und zugleich die Papstdogmen von 1870 zu kompensieren versuchte.
Einige abschließende Bemerkungen zur Kirchengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts möchte ich am Ende dieser Vorlesung hinzufügen. Natürlich war die Kirchen- und Geistesgeschichte Europas in diesem Zeitraum sehr viel breiter, aber wir mußten uns auf den Traditionsstrang konzentrieren, der zur Entwicklung des Altkatholizismus beitrug. Generell können wir einige Punkte zusammenfassen:
1. Die Renaissance des Augustinismus in der Reformation und die augustinisch-katholische Antwort darauf, der Jansenismus, brauchte schnell eine Gegenreformation hervor, die dem Menschen beim Erwerb des Heiles mehr zutraute als der Augustinismus, der die Souveränität Gottes und die gefallene Natur des Menschen betonte. Sie ist konfessionsübergreifend mit Namen wie Erasmus, Melanchthon, Arminius und Molina verbunden und sollte schließlich zum optimistischen Menschenbild der Aufklärung führen. Sie hatte ihre Wurzel in der kirchlichen Tradition des Mittelalters seit der Karolingerzeit und besonders in der europäischen Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts.
2. Die Renaissance der Aristotelismus im katholischen und protestantischen Teil Europas, das heißt letztlich der mittelalterlichen Scholastik, sollte ebenfalls zu einer Gegenbewegung führen. Sie ist mit dem Namen René Descartes ( 1596-1650) verknüpft. Seine Philosophie galt als Alternative zum Aristotelismus, brachte aber neue Probleme hervor. Wir konnten hier nur die Abneigung des Jansenismus gegen den Aristotelismus ansprechen.
3. Die Autorität Augustinus, der bis zum Ende des 17. Jahrhunderts als die Stimme der Kirchenväter galt, geriet in diesem Zeitraum zunehmend ins Wanken. Beispielhaft dafür ist der Angriff Richard Simons auf den Augustinismus, der eine Rückkehr zu den griechischen Kirchenvätern forderte. Dies rief eine Antwort Bossuets, des Vaters der Gallikanischen Artikel, hervor, der sich trotz seiner Abneigung gegenüber Calvinismus und Jansenismus zu einer Verteidigung Augustins genötigt sah.
4. Eine begrenzte Sicht des spirituellen Lebens auf den Kampf zwischen Jansenismus und Jesuitentum im Frankreich des 17. Jahrhunderts wäre allerdings verfehlt. Henri Bremond hat in seinem monumentalen Werk über die spirituellen Schulen dieser Zeit auf ihre große Vielfalt hingewiesen. Sie hatten Einfluß auf die Spiritualität ganz Europas, die in dieser Zeit auch die gebildeten Laien erfaßte. In unserem Rahmen mußten wir leider darauf verzichten und uns auf den Jansenismus konzentrieren. Die Kritik des Jansenismus am Frühkapitalismus erweist ihn als eine vormoderne Theologie. Dies gilt auch für seine zunehmende Apokalyptik.
5. Konziliarismus und Gallikanismus waren eine 600 Jahre alte Tradition des kirchlichen Konstitutionalismus, die im 19 Jahrhundert durch den Ultramontanismus unterdrückt wurde. Dies gilt auch für die reichskirchliche Variante, den Febronianismus. Sie sollte aber eine wesentliche Komponente in der Entwicklung des Altkatholizismus werden. Der Gallikanismus erwies sich dabei als eine Position, die auch ohne die Monarchie lebensfähig war.
6. Josephinismus (einschließlich der Synode von Pistoia) und Konstitutionskirche waren kurze, aber einschneidende Reformbewegungen Ende des 18. Jahrhunderts. Sie wurden vor allem vom niederen Klerus und der gebildeten bürgerlichen Schicht getragen, während sich der höhere Klerus und die große Masse des Volkes dem weitgehend verschlossen. Auch dies sollte seine Auswirkungen auf alle Entwicklung des Altkatholizismus haben.
7. Schon im 18. Jahrhunderts bemühte man sich, die Liturgie der Bevölkerung verständlicher zu machen und gab vereinzelt zweisprachige Texte heraus. Die liturgischen Bewegungen dieser Zeit wurden von der Erneuerung der Patristik getragen, betrafen aber nur den Klerus. Eine Vereinfachung der Liturgie wurde auch in diesem Zeitraum schon vereinzelt gefordert, scheiterte aber. Auch dies sollte Positionen der Altkatholizismus vorwegnehmen, der im 19. Jahrhundert von Anfang an eine Liturgiereform anstrebte. Ende des 18. Jahrhunderts zeigte sich dann (besonders ab 1790) ein Niedergang der öffentlichen Liturgie, der sich besonders im Niedergang des öffentlichen Stundengebets in den Kathedralen, Stift- und Pfarrkirchen in ganz Europa zeigte. Dies betraf nicht nur den Katholischen, sondern auch den lutherischen Raum. Eine Ausnahme bildeten nur die englischen Kathedralen. Klöster gab es in vielen Teilen Europas ab 1790 kaum bis gar nicht mehr.
8. Nach der Glaubensspaltung Europas und den darauf folgenden Konfessionskriegen brach eine neue Sehnsucht nach Friedensplänen und Kirchenunionen, modern gesprochen, einer Ökumene, aus. Die Zeit dafür war aber noch nicht reif. Sie sollte es erst im 20. Jahrhundert werden.
9. Schien das Papsttum in der Bulle 'Unigenitus' noch auf der Höhe seiner Macht, zeigte doch die Periode zwischen 1682 (Gallikanische Artikel) und 1801 (letztes Nationalkonzil der Konstitutionskirche) eine dramatische Abnahme der geistlichen und weltlichen Macht des Papsttums.
10. Ende des 18. Jahrhunderts (Theresianische und Josephinische Reform, Französische Revolution und Reichsdeputationshauptschluß) zeigte sich ein vollständiger Niedergang des monastischen Lebens und seiner Institutionen. Der Anstoß dazu kam, jedoch von außen, viele Kongregationen waren durchaus lebendig. Dies hatte erhebliche Auswirkungen auf die geistige Haltung der Bevölkerung und die Haltung des späteren Altkatholizismus. Zugleich zeigte sich eine zunehmende Säkularisierung des europäischen Denkens, initiiert durch eine rationalistische, deistische und teilweise bereits offen atheistische Aufklärung.
Ende der Vorlesung
Alle Rechte vorbehalten. Copyright: Günther Thomann. Schwarzenborn , Studienhaus St. Benedikt, REKD, 2016 Fortsetzung folgt. Weiterführende Lektüre: alt-katholisch-zeitgemäß. Die Geschichte einer anderen katholischen Kirche, Nordstrand 2009
Betrachtungen zur Feier der Eucharistie
Teil I: Von der Versammlung der Gemeinde, dem Anlegen der liturgischen Gewänder, der Bitte um Vergebung und der Hinführung zum heiligen Schweigen
von Klaus Mass
Das erste Kapitel von Alexander Schmemanns Betrachtungen zur Eucharistie ist überschrieben mit: Das Sakrament der Versammlung. Um zu verstehen, was in der Feier der Eucharistie geschieht und um diese würdig zu vollziehen, müssen wir uns bewusst werden, dass Kirche zuallererst weder ein Haus aus Stein, noch eine hierarchische Institution ist, sondern die Versammlung des Gottesvolkes. Sie ist eine Versammlung an einem konkreten Ort und zu einer konkreten Zeit und mit einem konkreten Anliegen, nämlich die Eucharistie zu feiern, das hl. Messopfer darzubringen.
Das allgemeine Priestertum der Getauften besteht nicht darin an dieser Feier irgendwie teilzunehmen, sondern darin, diese Versammlung überhaupt erst zu konstituieren. Wenn der orthodoxe Theologe Schmemann die Versammlung ein Sakrament nennt, dann wird klar, dass die größere oder auch kleinere Gruppe, die sich hier zusammenfindet, nicht nur irgendwie Anteil an der Gemeinschaft der Kirche hat, sondern ganz konkret das ist, was sie bezeichnet, nämlich die Kirche, die Ekklesia, die Versammlung des Herrn .
Die Versammlung des Herrn besteht nun aus ganz unterschiedlichen Charismen, Gaben und Berufungen. Aus Jungen und Alten, aus Männern und Frauen, aus getauften, gefirmten und aus ordinierten Gläubigen. Aus starken und schwachen, aus stolzen und demütigen Menschen, aus Zweiflern und Sündern. Die Menschen kommen aus ihrem jeweiligen Alltag heraus, aus Familie, Arbeit, Krankheit, Einsamkeit, aus Stress oder auch aus Langeweile. Sie kommen mit konkreten Anliegen und sind doch nicht immer bei der Sache. Die Versammlung des Herrn ist keine Elite und doch ein heiliges Priestertum.
Diese Versammlung realisiert von alters her die Kirche, indem sie zusammenkommt, um die Eucharistie zu feiern. Schmemann weist darauf hin, dass es sich um einen kolossalen theologischen Denkfehler handelt, zu glauben, die Eucharistie könne „in der Gegenwart der versammelten Gläubigen“ gefeiert werden. Eine solche, weder mit dem biblischen Text, noch mit der Theologie der Väter zu vereinbarende Auffassung würde die Feier der Eucharistie allein als Dienst des Klerus verstehen, welcher allenfalls noch einzelne Gläubige für spezifische Aufgaben hinzuruft. So würde der Kleriker zum Dienstleister, welcher für individualistische Anliegen eine Messe zu lesen habe.
Diese Haltung ist es, die der orthodoxe Theologe als Wurzel der Enge und Einseitigkeit unserer liturgischen Frömmigkeit bezeichnet, aus welcher letztlich nichts als Folklore erwachsen könne.
Die Überwindung dieser Haltung, welche Schmemann auf die Konzepte der mittelalterlichen Theologie (Scholastik) zurückführt, könne nur durch eine liturgische Katechese gelingen, welche wieder an Schrift und Patristik anknüpfe und die Liturgie tatsächlich als Feier des ganzen Gottesvolkes ernstnehme und daher als „Konzelebration“ des Klerus mit den Gläubigen verstehe. Üblicherweise wird in der westlichen Liturgiewissenschaft dieses Anliegen stets als participatio actuosa bezeichnet, als tätige Teilhabe des Gottesvolkes.
Daher steht der Zelebrant nicht alleine am Altar, sondern ist der Vorsteher, der Wortführer seiner Gemeinde. Das Bild des Vorstehers kann gar nicht ohne umstehende Gemeinde gedacht werden. So geht dem Einzug des liturgischen Dienstes die Versammlung des priesterlichen Gottesvolkes immer voraus. In der Versammlung der Getauften (den Gliedern) realisiert sich die Gegenwart des eigentlichen Priesters (des Hauptes), unseres Herrn Jesus Christus. So ist es von vornherein der Leib Christi (Gemeinschaft), der sich versammelt um die Danksagung (Eucharistie) zu feiern und den Leib Christi (Kommunion) zu empfangen.
Kein Priester steht für sich selbst, sondern ist stets im Dienst der Kirche, des Gottesvolkes, durch den Bischof beauftragt, dieser Feier vorzustehen. Nicht als Vertreter oder Abgesandter Christi tritt der Priester an die Spitze der Gemeinde, er ist in der Feier der Liturgie Christus selbst, wie die Gemeinde der Leib Christi ist.
Jetzt legt der Priester über die Albe, dem Taufgewand der Christen, welches grundsätzlich von allen Gottesdienstteilnehmern getragen werden könnte, die Stola, das Zeichen seines Dienstes. Nicht wenige Priester pflegen nach wie vor den Brauch der Ankleidegebete, auch wenn diese in der erneuerten römischen Liturgie keine Erwähnung mehr finden. Indem der Zelebrant schließlich das Messgewand überlegt, wird er zu einem Zeichen des erlösten Menschen, welcher an der Herrlichkeit Gottes teilhat. Er wird zu einer Ikone des Gottesreiches, welches in der nun folgenden Feier sinnfällig nahe kommen will.
So angetan tritt der liturgische Dienst jetzt in die Mitte des Volkes, idealerweise am Eingang der Kirche, in einem Vorraum oder einem Seitenschiff um sich gemeinsam mit diesem für die Feier der Eucharistie zu rüsten, um sich wechselseitig auf die Feier der hl. Mysterien vorzubereiten. Dies geschieht in unserer westlichen Tradition durch den Bußakt, im Stufen- oder auch Staffelgebet, dem Confiteor, dem Gebet der Tauferneuerung. Wenn die Form des Stufengebetes auch mittelalterlichen Ursprungs sein mag, so belegt doch die Zwölfapostellehre, dass von alters her die Bußfeier der Eucharistiefeier vorausging. Nicht still geflüstert zwischen Priester und Ministranten, sondern im Geiste der liturgischen Bewegung laut mit der ganzen Gemeinde gebetet.
„Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Die Feier des Erneuerungsgebetes beginnt mit den letzten Versen aus dem Matthäusevangelium. Die liturgische Versammlung ist sich nicht nur bewusst eine Gemeinschaft der Getauften zu sein, sondern auch im beständigen Auftrag des Herrn zu stehen, eine missionarische Gemeinschaft zu realisieren. Der ganze Gottesdienst von diesem ersten bis zum letzten Wort, ite missa est, ist eingerahmt vom Missionsauftrag.
Christliche Mission geschieht daher zuallererst durch das glaubwürdige Leben der Christen selbst, sowie durch die glaubwürdige Feier der Liturgie an sich. Ob das Licht des Evangeliums leuchtet, liegt daher primär an den Christen selbst. Deshalb bekennt der Priester seine Schuld, seine Schwachheit, sein Versagen und empfängt die Absolution durch das Gebet der Gemeinde (dem allgemeinen Priestertum!). Ebenso bekennt sich die Versammlung der Gemeinde und empfängt die Vergebung durch den Priester. Priester und Gemeinde erkennen, dass die anstehende Feier nicht die ihre ist, sondern dass sie sich wechselseitig für deren Vollzug ertüchtigen müssen. Die Feier der Eucharistie kann nicht anders gefeiert werden als in der vergebenden und erlösenden Gnade Jesu Christi selbst.
Daher ist es nicht nur richtig, dass die Versammelten sich bereits während der ersten Worte dieses Gebetes bekreuzigen, sondern dass auch während der Absolutionsbitte das Kreuz über die Gläubigen gezeichnet wird. Auch hier ist der Gottesdienst wieder von Anfang bis Ende gerahmt, diesmal im Zeichen des Kreuzes.
Leider haben die liturgischen Reformen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil diese so wichtige Vorbereitung auf die Feier der Eucharistie fallen lassen und den Bußakt ganz unnötiger Weise in die eigentliche Feier der Messe hineingezogen. In der älteren von mir hier präferierten Form geht der Bußakt der Feier Eucharistie nicht nur voraus, sondern wird im ursprünglichen Sinne auch als tatsächliche Absolution verstanden.
Möglicherweise haben sich die Gläubigen bereits am Eingang der Kirche mit Weihwasser bekreuzigt, womöglich werden sie an dieser Stelle mit dem gesegneten Wasser besprengt. Das Wasser ist hier nicht nur Zeichen ritueller Reinigung und damit des Übergangs aus der Profanität des Alltags in die Gegenwart des Herrn, sondern auch ganz konkrete Erinnerung und Erneuerung der Taufe. Als Getaufte haben wir Anteil am erlösten Gottesvolk und sind Konzelebranten der nun folgenden Feier.
Kleiner Exkurs zur Stille vor der Messe:
Seit Gregor dem Großen kennen wir die Klage über die Geschwätzigkeit der Gottesdienstversammlung. Wo heiliges Schweigen herrschen könnte, werden die neusten Ereignisse der vergangenen Tage breitgetreten, sei dies in der Sakristei, sei es im Kirchenraum selbst. Wo es allein um die Begegnung mit Gott gehen könnte, herrscht ein Verkehr reger Begrüßung und seichten Geplappers. Und schon der erwähnte Papst hat darauf hingewiesen, dass ein Priester, der sich diesem Treiben verweigert, eben nur als unhöflich wahrgenommen würde. Dem Gesetz der menschlichen Natur folgend scheint es folglich richtig zu sein, den Ankommenden zunächst Zeit für persönliche Begegnung und individuellen Austausch zu geben. Aber ebenso ist es richtig die Gemeinde zum heiligen Schweigen zu führen, sei es durch eine allgemeine Begrüßung und Hinführung durch den Zelebranten, sei es durch die musikalische Hineinführung in die Stille. Es lohnt sich, die Gemeinde in dieser Hinsicht zu schulen, die eigenen Anliegen in Stille vor Gott zu tragen und sich dabei bewusst zu werden, ein lebendiges Glied am Leibe Christi zu sein. Es lohnt sich innerlich wie äußerlich ruhig zu werden, um dann umso kräftiger in den lebendigen Lobpreis der Kirche einzustimmen und die Gegenwart Gottes zu erspüren.
Fortsetzung folgt.
Buchbesprechung von Diakon Friedrich Hartmann, Gemeinde St. Andreas
Neue Antworten für Hiob.
Die Naturwissenschaften, der liebe Gott und das Leid
von Gerhard Haszprunar, erschienen im EOS- Verlag, 2016.
Der Autor, Prof. Dr. Gerhard Haszprunar, Professor für Systematische Zoologie in München versucht auf der Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und den Überlegungen aktueller Theologie eine Antwort zu geben auf die Frage, warum ein allmächtiger und liebender Gott so viel Leid zulässt. Der Verfasser beruft sich auf die beiden Gottesreden des Buches Hiob und erkennt darin klare Hinweise, dass das Theodizee-Problem direkt mit den Grundgesetzen des Schöpfungswerkes zusammenhängt.
Die Kenntnisse und Einsichten in die Grundgesetze der Entstehung unseres Kosmos und der Entfaltung des Lebens auf der Erde einschließlich des Menschen sind in den letzten 150 Jahren insbesondere durch die moderne Evolutionsbiologie, noch mehr aber durch Astronomie, Relativitätstheorie und Quantenphysik rasant gewachsen. Die heute unbezweifelbaren Grundgesetze von Materie und Energie legen eine völlig neue Betrachtungsweise in Bezug auf die Schöpfung nahe. Die naturwissenschaftlich zweifelsfreie Feststellung heißt: der Ablauf des Weltgeschehens ist prinzipiell nicht vorherbestimmt. Der objektive Zufall, die sogenannte quantenphysikalische Indetermination aller Materie/Energie ist eine zentrale Eigenschaft der Schöpfung.
Traurig sind die bisherigen Reaktionen der Theologie: die einen ignorieren die Quantenphysik völlig und argumentieren nach wie vor unverdrossen auf der Basis der längst überholten Newton`schen Mechanik. Andere haben das Problem erkannt, bemühen sich aber mit aller Kraft, den Zufallsgedanken, damit die Grundlage der Quantenphysik zu bekämpfen bzw. zu leugnen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Aus diesem Paradigmenwechsel entwickelt der Autor eine überzeugende theologische Sicht von Freiheit, Liebe und Leid. Einige Aspekte wirken zunächst befremdlich, werden doch gängige Gottesbilder radikal in Frage gestellt.
Leid, irrelevant ob durch Katastrophen oder durch böse Menschen verursacht, erscheint in diesem Konzept als unvermeidliche Konsequenz der Freiheit, die ein liebender Gott der gesamten Schöpfung einschließlich des Menschen gewährt. Die auf ewig garantierte Freiheit der geliebten Schöpfung verbietet demnach ein direktes Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen, was Fragen aufwirft in Bezug auf Bittgebet und Wunder.
Gott schränkt seine Allmacht aus Liebe auf ewig selbst ein. Der liebende Gott lässt aber die leidenden Menschen nicht allein, sondern identifiziert sich mit ihnen und handelt durch Menschen guten Willens. Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass wir alle als Kinder Gottes, als Seine Erben aufgefordert sind freiwillig im Rahmen unserer Talente (keiner kann alles, aber keiner hat nichts) dem Leid der Welt, aber auch unserem eigenen Leiden entgegenzutreten und zu handeln.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die gut lesbare und spannende, gedanklich aber sehr dichte Untersuchung einen Bogen schlägt von persönlicher Erfahrung großen Leids als Herausforderung hin zu einer Begründung des eigenen Glaubens (Credo) und eben nicht mehr als Suche nach der Rechtfertigung Gottes (Theodizee). Die Existenz Gottes wie seine Nichtexistenz kann nicht bewiesen, sondern nur geglaubt werden. Der Autor beschreitet dazu den Weg über den biblischen Befund, den Aussagen der Kirchengeschichte und der Theologen durch die Jahrhunderte. Größeren Raum nimmt die naturwissenschaftliche Betrachtung von Zufall und Rahmenbedingungen ein. Am Ende wird eine synthetische Betrachtungsweise vorgeschlagen, getragen von Glaube und Wissen, eine zeitgemäße verständliche Antwort auf Hiob.
Buchbesprechungen von Axel Stark
Jürgen Erbacher, Weiter denken.
Franziskus als Papst und Politiker, Ostfildern 2018, Patmos, 175 S., 19 €.
Für Papst Franziskus gilt: "der Mensch zuerst". Sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft soll jeder Mensch seinen Platz haben und niemand ausgeschlossen sein. Die arme und barmherzige Kirche, die er anstrebt, ist zugleich auch eine zutiefst "politische Kirche". Damit ist Franziskus ein "politischer Papst", obwohl er kein Politiker sein möchte.
Franziskus orientiert sich konsequent an Jesus von Nazaret: er setzt Zeichen, arbeitet an Grundlagen und Strukturen für ein gerechtes Miteinander. Stärker noch als seine Vorgänger setzt er sich für einen nachhaltiegn Lebensstil ein.
Ein "Weiter so wie bisher" reicht nicht aus. Auch die Kirche muss weiter gedacht werden, damit sie im 21. Jahrhundert bestehen kann - davon ist der Papst überzeugt. Fünf Jahre hat der ZDF-Redakteur, Theologe und Politologe Erbacher den Papst beobachtet und begleitet und kann in seinem Buch den Papst mit seinen Anliegen und mit seiner Überzeugung uns nahebringen. Es geht um das "neue Selbstbewusstsein des Gottesvolkes", um die "arme und barmherzige Kirche", um die neue "Weltkirche", um die "Ränder, die Peripherie", um eine "synodale, dezentralisierte und ökumenische Kirche", um das prophetisch-politische Handeln und um die lebendige, dynamische Tradition.
Erbacher macht deutlich, dass es für Christen sinnvoll ist, sich mit Papst Franziskus und seinen Anliegen auseinanderszusetzen und sich entsprechend zu engagieren.
Walter Kardinal Kasper,
Die Freude des Christen,
Ostfildern 2018, Patmos, 238 S.
"Es gehört zur Dramatik der gegenwärtigen Situation, dass Traurigkeit, Überdruss und Herzensenge nicht nur Probleme des Einzelnen, sondern darüber hinaus ein gesellschaftliches Phänomen erster Ordnung sind. Die Angst kann viele Ursachen haben: die Globalisierung, die Verseuchung der Erde, die Erderwärmung, das weltweite Phänomen der Migration ...
Wer Gott ernst nimmt, der kann in aller Bedrängnis nicht zum Rückzug in die Wagenburg der kleinen Herde blasen. Er wird der Leuchtspur der Freude in der Geschichte und Gegenwart nachgehen.
Diese Freude kann das Schwere der Welt überwinden, weil sie mit der Hoffnung verschwistert ist". Mit diesem Buch zu seinem 85. Geburtstag (5.3.1933) kann Kasper an sein Motto zur Priesterweihe (1957) anknüpfen: "Wir sind nicht Herren eures Glaubens, sondern Diener eurer Freude" (2 Kor 1,14). Es geht ihm nicht um die Freude am Christentum oder an der Kirche; es geht um die Freude im christlichen Glauben an das Evangelium und um eine grundlegende Besinnung auf den christlichen Glauben in der Welt von heute. Kasper bewegt sich so auf der Linie der prophetischen Rede von Papst Johannes XXIII. bei der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils Gaudet mater Ecclesia (1962) sowie der Pastoralkonstitution Gaudium et spes (1965). Eine solche Weitung und Begeisterung der Herzen in der Freude tut der Christenheit heute vor allem not.
Martin Werlen, Zu spät.
Eine Provokation für die Kirche. Hoffnung für alle, Freiurg 2018, Herder, 192 S.
Seit seinem Rücktritt als Benediktinerabt von Einsiedeln und damit als Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz schreibt Martin Werlen interessante und im guten Sinn provokante Bücher:
"Heute im Blick. Provokationen für eine Kirche, die mit den Menschen geht", "Wo kämen wir hin? Für eine Kirche, die Umkehr nicht predigt, sondern selber lebt" sowie "Im Zug trifft man die Welt. Bahngleichnisse". Da Werlen keinen Führerschein besitzt, fährt er Zug oder als Beifahrer und auch Anhalter im Auto mit. So bekommt er die Gelegenheit zu vielen Gesprächen und Kontakten.
Er sieht die Entfremdung der Kirche von den Menschen. Er beobachtet eine lähmende Stagnation und bei manchen die Hoffnung, dass, trotz aller Abbrüche, alles beim Alten bleiben möge. Seine klare Diagnose: Diese Hoffnung trügt.
Ein dramatisches Ereignis, eine wahre persönliche Begebenheit, die Werlen schier aus der Bahn geworfen hat, steht im Zentrum dieses autobiographisch geprägten Buches. Und die zentrale Erfahrung lautet: Christliche Berufung ist heute ganz radikal neu gefordert. Die Geschichte vom Propheten Jona durchzieht dieses Buch wie ein roter Faden. Loslassen kann schmerzen. Aber es hilft, nach innen und in die Tiefe zu gehen, Glauben neu zu entdecken -
an der Seite auch jener Menschen, in deren Leben "alles zu spät" ist. Gewidmet ist das Buch in Dankbarkeit allen Menschen, die die Kirche nicht in Ruhe lassen.
Julia Enxing (Hg.), Schuld.
Theologische Erkundungen eines unbequemen Phänomens,
Ostfildern 2015, Grünewald, 308 S.
Schuld zu verstehen und zur Sprache bringen, stellt die Theologie auf die Probe. Will sie nämlich eine Theologie sein, die sich am Menschen orientiert, kann sie nicht unberührt bleiben von schmerzhaften Realitäten und Schuldverstrickungen der Kirche.
Katholische und evangelische Theologen ergründen systematisch-theologisch das Phänomen Schuld. Reflektiert werden die Zusammenhänge von Schuld und Sünde, Scheitern und Vergebung, die Frage einer sündigen Kirche sowie einer verantwortbaren Rede von der Ursünde. Beiträge liefern u.a. Jürgen Werbick (Schuld und Scheitern), Johanna Rahner (Kirche und Schuld), Stephan Jütte (In welchem Verhältnis steht die Kirche zur Schuld?), Bernhard Knorn SJ (Schuld und der kirchliche Dienst der Versöhnung), Julia Enxing (Das Schuldbekenntnis Johannes Pauls II.), Jutta Koslowski (Der Umgang mit Lehrverurteilungen als Aspekt kirchlicher Schuldgeschichte) und Lydia Koelle (Deutsche Theologie der dritten Nach-Shoah-Generation und ihre Vergebungsdiskurse). Insgesamt soll ein Begriff von Theologie und Kirche gestärkt werden, der schmerzhafte Realitäten zu integrieren vermag, um so einen Beitrag zum Umgang mit Schuld zu leisten, der einem künftigen Vertuschen und Verdrängen vorbeugt.
Bernd Oberdorfer / Oliver Schuegraf (Hg.), Reform im Katholizismus.
Traditionstreue und Veränderung in der röm.-kath. Theologie und Kirche,
Leipzig 2018, Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 119, Ev. Verlagsanstalt,
467 S., 38 €.
Dieser Band verdankt sich einer Tagung in der Ev. Akademie Tutzing Ende 2016. Die VELKD will damit in der langen Tradition der ihr spezifischen Catholica-Arbeit einen ökumenischen Beitrag zum Reformationsjubiläum 1517/2017 leisten. Auslösendes Motiv war die Überlegung, in den Jahren des Reformationsjubiläums den Blick auch einmal auf den römisch-katholischen ökumenischen Partner zu richten und zu fragen, wie sich dort Veränderungs- und Reformprozesse darstellen und gestalten.
Die Einführung stammt von dem Augsburger ev. Theologieprofessor Bernd Oberdorfer: „Reform und Bewahrung im Katholizismus. Lutherische Freundbeobachtung im Dialog“. Der Titel signalisiert mit den Stichwörtern „Freundbeobachtung und Dialog“ die positive, gegenseitig sich wertschätzende Haltung der Autoren aus beiden Kirchen. Vom verstorbenen Kardinal Lehmann gibt es einen grundlegenden Artikel über „Traditionstreue und Erneuerung in der Katholischen Kirche“.
Katholische und evangelische Theologen befassen sich u.a. mit der „Apostolischen Sukzession“
(Friederike Nüssel/ev. und Bertram Stubenrauch/rk.), dem „Kirchlichen Lehramt“ (Michael Beintker/ev. und Magnus Striet/rk.) und dem „Subsistit“ (Wolfgang Thönissen/rk. , Tiina Huhtanen/ev.).
In einem zweiten Teil wird die Frage nach Wandlungsprozessen anhand ausgewählter Fallstudien weiter vertieft: Papsttum und Kirchenreform (Günther Wassilowsky/rk.), Die Einführung „neuer“ Dogmen am Beispiel des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes (Theodor Dieter/ev.), Der Modernismus-Streit und sein Echo im 20. Jahrhundert (Margarethe Hopf/ev.), Die Neubeurteilung der Menschenrechte, namentlich der Religionsfreiheit (Johanna Rahner/rk.), Die Neubewertung der historisch-kritischen Bibelexegese (Thomas Söding/rk.), Kollegialität-Synodalität-Sensus Fidei (Myriam Wijlens/rk.).
Zum Schluß formulieren Martin Bräuer (ev., Catholica-Referent in Bensheim) und Oliver Schuegraf (VELKD-Oberkirchenrat) einen Rück- und Ausblick dieser gelungenen ökumenischen Tagung
Spiritualität:
Segensgebet über die Zeltkapelle St. Andreas zu Ebenweiler
Möge dieses Zelt Euer Leben bergen. Wenn Ihr kommt,
möge alle Last der Welt von Euren Schultern abfallen.
Euer Herz soll hier ruhen, gesegnet mit einem Frieden,
den die Welt sonst nicht zu schenken vermag.
Möge dieses Zelt ein glückbringender Ort sein, wo die
Gnaden, die Euer Leben sich ersehnt, stets zu Euch finden.
Nichts Verderbliches soll jemals hier herein gelangen.
Ein sicherer Ort soll dieses Zelt sein, wo Ihr verstanden
und angenommen seid, wo jeder sein kann, wie er ist
ohne eine Maske zu benötigen des Scheins oder der Verstellung.
Ein Ort der Entdeckung kann dieses Zelt sein, wo die
Möglichkeiten, die in der Tiefe eurer Seele schlummern,
aufkeimen können und zur Grünkraft für alle werden.
Es soll ein Zelt des Mutes sein, wo man Heilung und
Wachstum liebt, wo Würde und Vergebung herrschen;
wo Gott und Mensch einander begegnen,
ein Zelt, in dem ein geduldiger Geist geschätzt wird,
und das Ziel nie aus dem Blickfeld gerät.
Und mag Eure Reise noch so langsam und beschwerlich
sein – unser Zelt soll ein gastlicher Ort sein für alle, die
hier rasten wollen.
...
Das gewähre uns der dreieine Gott!
(Frei nach John O’Donohue: Benedictus. München, 2009.)